Kornitzer empfand George als sich versteifend, als hätte er sich mit dem englischen Namen je länger um so mehr auch eine Würdeform zugelegt, eine Verpanzerung, die der Vater kaum durchdringen konnte. (Aber er, Richard Kornitzer, hatte sich ja auch umständehalber verpanzert. Das Auto. Das Essen. Die Leibesfülle, gegen die gearbeitet werden mußte wie gegen einen inneren Feind, der nach außen drang.) Das Beste war: Er lud George zum Essen ein, und sie überlegten gemeinsam, wo und wie dieses Essen stattfinden sollte. In seinem Zimmer (seiner Bude?) wollte George offenbar den Vater nicht empfangen, und die Auskünfte über seinen Alltag waren karg. Und das bekümmerte wiederum Richard Kornitzer: Er wurde die Erinnerung nicht los, wie er das Bübchen in Berlin auf dem Wickeltisch liegen gesehen und auch die nötigsten Maßnahmen gegen eine sich ausbreitende Feuchtigkeit ergriffen hatte, mit ihm gespielt, ihm die Welt erklärt hatte, und der große Sohn tat so, als hätte er, der Vater, einen vollkommen fremden, ausländischen Säugling in einer anderen Zeitstufe eines fremden Jahrhunderts gewickelt: also alles zurück auf Null. Er hatte die Liebe vergessen, verdrängt. Ja, seine Kinderwären andere Menschen geworden, wären sie bei ihrer Mutter und ihrem Vater aufgewachsen. Selma war entschieden gesprächiger, auch streitlustiger. Sie erzählte ihrem Vater, daß sie heiraten wolle, aber daß ihr Freund ihrem Plan noch nicht wirklich zugestimmt habe. Der Vater mahnte zur Vorsicht, so viel Eifer könne leicht ins Leere laufen. Und als er sich nach dem Freund, dem erwählten Ehemann, erkundigte, sagte Selma, er sei ein richtiger Jude. Und genau das schien sie anzuziehen. Kornitzer erlaubte sich zu sagen, daß es ihm übertrieben demonstrativ erscheine, im Jahr 1957 einen Juden heiraten zu wollen. (Andere Eigenschaften des Freundes erwähnte sie nicht.) Selma sah ihn argwöhnisch an und fragte: Was ist übertrieben? ich verstehe das Wort nicht. Und als ihr Vater ihr englische Entsprechungen nannte, verstummte sie, verstimmt.
Er hörte Amanda nicht, er hätte sich (symbolisch gesprochen) ans Meer stellen müssen, an die holländische Küste, um das Kind und auch seine Mutter, oh ja, diese vor allem, zu rufen. Es war, der deutsche Ausdruck war blödsinnig, es war verlorene Liebesmüh. Oder er hätte ein Rechtshilfegutachten beantragen müssen: eine Amtshilfe, um seine kubanische Tochter sehen zu können. Andere Väter entführten ihre Kinder, tanzten den Müttern der Kinder, ihren früheren Geliebten, auf der Nase herum, nahmen ihnen ein Kind weg aus welchen Gründen immer. Doch die Gründe waren klar: aus Egoismus, aus Rachsucht, aus Hochmut. Das kam nicht in Frage. Das Recht war auf Seiten der Mutter, und Kornitzer war auf der Seite des Rechts. Er schrieb Goldenberg, Goldenberg antwortete, vermittelte, aber was war da zu vermitteln? Allein die Post dauerte elend lang, und die Hälfte der Briefe ging verloren. Kornitzer war in Kontakt mit Emigranten aus Shanghai, und diese berichteten von der preußischen Genauigkeit, der Schriftkundigkeit in alle Richtungen, die die ehrgeizigen Briefträger in Shanghai an den Tag gelegt hatten. In Havanna war das anders, wer bekam schon Briefe und warum; vielleicht wurden ganze Briefsäcke ins Meer geschüttet oder den Fischen zum Fraß vorgeworfen, damit sie ordentlich fett wären, wenn sie sich der Küste näherten.
Kornitzer sah sich seine Kollegen im Landgericht an: Landgerichtsrat Beck, zehn Jahre jünger als er, war auch längst Landgerichtsdirektor geworden. Er hatte sich ein starhaftes Hochrecken des Kinns angewöhnt, als dirigiere er ein ganzes Orchester und nicht eine Kammer für Strafrecht. Dabei rieselten Schuppen auf seine Robe. Sein Bartschatten war silbrig geworden. Der vierschrötige Dr. Buch, der einen Augenblick lang in seiner Karriere — im Jahre 1946 — Angst gehabt hatte, seine Vergangenheit lösche seine Zukunft aus, hatte diese Angst gründlich aus dem Gedächtnis getilgt. Mit beamtenhafter Sturheit starrte er auf den Termin seiner Pensionierung, „noch ein paar Jährchen“, saß sein Richteramt, wie man so sagt, auf einer Arschbacke ab. Zeh, den Kornitzer als einen Zeugen zu seiner „Tat“, der Verlesung von zwei Grundgesetzartikeln, dazugebeten hatte, war auf höfliche Weise distanziert, nur nicht daran rühren, drückte seine Miene aus. Hatte Kornitzer ihn falsch eingeschätzt, oder fühlte er sich überrumpelt? Landgerichtsdirektor Brink jedenfalls, der Übermittler der Botschaft an das Oberlandesgericht, war von eisiger Undurchdringlichkeit, wie erfroren. Justizobersekretär Fell hingegen, der Protokollant, begann manchmal, wenn er Kornitzer auf den Fluren traf, ein ungehemmtes Schwatzen über alles Mögliche, als hätte das zu Protokollierende eine Schleuse geöffnet, und Ungefiltertes, Zufälliges dringe in den Raum wie Keime. Hartmann und Nell, Kornitzers Beisitzer, waren von verhaltener Distanz, etwas schien in ihren Köpfen zu rattern, vielleicht die Erinnerung an die Lesung des Grundgesetzes, das der Vorsitzende der Kammer wie ein Schild vor sich her getragen hatte. (Die Formulierung „Jemand läuft mit dem Grundgesetz unter dem Arm herum“ war noch nicht in Mode.) Hartmann und Nell arbeiteten zu Kornitzers Zufriedenheit, politische Erörterungen waren nicht angebracht im Besprechungszimmer der Zivilkammer, auch eigentlich nichts Persönliches. Kornitzer mochte Nell, den dünnen Schlaks, und hatte ihn nach Kräften gefördert. Hartmann dagegen schien jetzt manchmal eine funktionelle Begriffsstutzigkeit an den Tag zu legen, ein Zögern, ein Sich-Verschließen vor einem Argument, als könnte darin eine Falle, eine Falltür ins Ungewisse verborgen sein. Dabei fuhr er sich sinnend durchs Haar, als wäre tief zwischen seinen Haarwurzeln eine Klarheit, eine Logik der Argumentation verborgen. Kornitzer müßte diese Veränderung — natürlich auf ganz abstrakte Weise — bei der nächsten dienstlichen Beurteilung auch zur Sprache bringen, er hoffte, die nächste Beurteilung stünde nicht so bald an. Aber er empfand es auch so, als sei immer eine gläserne Wand zwischen ihm und den Beisitzern, wenn sie miteinander im Besprechungszimmer saßen und berieten. Jedenfalls konnte er sich auf sie verlassen. (Oder er wollte es glauben.) Das Verlassen, das Sich-auf-jemanden-Verlassen und das Sich-verlassen-Fühlen rückten nahe zueinander und überlagerten sich schließlich, und es war nicht mehr ganz klar, an welcher Stelle man sich selbst einordnen wollte oder konnte. Kornitzer arbeitete an sich selbst, er arbeitete an einem Entwurf von Welt, und gleichzeitig entglitt ihm Welt, rutschte weg ins Unfaßliche, Unstoffliche. Er kann sein eigener Zeuge nicht sein.
Er wird ein Antragsteller und nennt sich selbst „den Antragsteller“. Dem Antragsteller wird geantwortet in einem Wiedergutmachungsbescheid, sein Antrag sei unbegründet: Der Antragsteller ist im Jahre 1949 aus Gründen der Wiedergutmachung im Justizdienst des Landes Rheinland-Pfalz als Beamter auf Lebenszeit bevorzugt „wiederangestellt“ worden, obwohl er vor diesem Zeitpunkt niemals als Angehöriger des öffentlichen Dienstes im Gebiet dieses Landes tätig gewesen ist. Es scheint ihm so, als schmiere man ihm das aufs Butterbrot. Ja, er ist nicht einheimisch, er ist in Breslau geboren und hat in Berlin studiert und seine Karriere begonnen. Ist das ein Fehler? Oder ist es eher eine Weltläufigkeit, über die die im Gebiet dieses Landes Geborenen, das vor den eingetretenen Umständen gar kein Land gewesen ist, sondern etwas Übriggebliebenes, etwas Niedergetretenes, an die Franzosen Abgetretenes, gar nicht verfügen? Kurz nach seiner Ernennung zum Landgerichtsrat ist — wiederum aus Wiedergutmachungsgründen — seine Beförderung zum Landgerichtsdirektor beantragt und durch den Erlaß des Ministerpräsidenten mit Wirkung vom 1. September 1949 verfügt worden. Nun, acht Jahre später, klingt es, als sei es eine Gnade gewesen, daß man den Mann, der keinen rheinischen und keinen pfälzischen Stallgeruch hatte, den niemand kannte als Referendar oder Gerichtsassessor, eingestellt hat. Und: Es ist deutlich, man hätte dies nicht tun müssen, es war eine Freundlichkeit, eine Herablassung, es zu tun, eine Wiedergutmachungsgeste, vielleicht ein Wink der französischen Besatzer, das läßt sich nicht mehr klären. Jedenfalls keine Überzeugung, kein Rechtstitel. Von einem Anspruch des Antragstellers ist nicht mehr die Rede. Das soll doch bitte der hochfahrende Landgerichtsdirektor, der sich zu Höherem berufen fühlt, begreifen. Schneidend kalt wird einem bei diesem Bescheid. Weil die Macht, die Entscheidungsbefugnis, anderswo ist, jedenfalls nicht dort, wo Kornitzer ist, läßt sich mit langem Atem argumentieren, seitenlang ausschweifen, und Grundsätzliches kann sorgsam zwischen den Zeilen verborgen werden, während Kornitzer sein Herz im Halse klopfen spürt. Er liest den Schriftsatz, er versteht ihn, es zerreißt ihn, und er muß streng mit sich sein, um später einen anderen (gegnerischen) Schriftsatz konzipieren zu können.