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Rückwirkend seien ihm vom 1. Juni 1949 an die Dienstbezüge eines Landgerichtsdirektors (Besoldungsgruppe A 2b) zuerkannt worden, führt das Justizministerium aus. Damit hat der Antragsteller die Rechtsstellung und die Besoldung erlangt, die er im Verlauf seiner Dienstlaufbahn voraussichtlich erreicht haben würde, wenn er im Jahre 1933 nicht vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden wäre. Eine weitere, über die Stelle eines Landgerichtsdirektors hinausgehende Beförderung wäre dem Antragsteller bei ungestörtem Verlauf seiner beruflichen Entwicklung bis Ende 1949 voraussichtlich nicht zuteilgeworden. Im Bereich der ordentlichen Justiz können erfahrungsgemäß auch diejenigen Richter, deren Prüfungsergebnisse und dienstliche Leistungen weit über dem Durchschnitt liegen, eine über der Besoldungsgruppe A 2b liegende Beförderungsstelle in der Regel nicht vor der Vollendung ihres 50. Lebensjahres erreichen. Die Beförderungsverhältnisse liegen insoweit in den einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken ziemlich gleich. Im vorliegenden Fall sind für den Umfang der Wiedergutmachungsansprüche die Verhältnisse im Kammergerichtsbezirk maßgebend, da der Antragsteller in diesem Bezirk tätig gewesen ist und voraussichtlich geblieben wäre, wenn ihn nicht der Preußische Justizminister im Jahre 1933 vorzeitig in den Ruhestand versetzt hätte. Das durchschnittliche Lebensalter, in dem die im Jahre 1941 beim Kammergericht in Berlin tätig gewesenen Senatspräsidenten erstmals in eine Stelle der Besoldungsgruppe A 1a eingewiesen sind, liegt bei 51 Jahren (vgl. Kalender für Reichsjustizbeamte 1941. S. 561). An diesen Beförderungsverhältnissen hat sich offenbar auch in den folgenden Jahren im Wesentlichen nichts geändert; denn im Jahre 1953 befand sich unter den insgesamt 11 Senatspräsidenten des Kammergerichts Berlin nur ein einziger, der das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte (vgl. Handbuch der Justiz 1953. S. 60). Unter diesen Umständen ist nicht anzunehmen, daß der Antragsteller im Jahre 1949, also im Alter von 46 Jahren, schon über die Stellung eines Landgerichtsdirektors hinausgelangt wäre, wenn er seine richterliche Tätigkeit im Kammergerichtsbezirk Berlin hätte fortsetzen können. Auch wenn der Antragsteller, der während seiner Tätigkeit als Gerichtsassessor hauptsächlich mit Fragen des gewerblichen Rechtsschutzes und des Urheberrechts befaßt war, in den Dienst des Reichspatentamtes übergetreten wäre, würde sich seine Laufbahn bis Ende 1949 nicht günstiger gestaltet haben, als bisher angenommen wurde.

Akribisch listet das Justizministerium ihm auf, wie die beruflichen Stationen des von ihm als Vergleichsperson benannten Senatspräsidenten waren: er ist drei Jahre älter als Kornitzer, er hat die große Staatsprüfung bereits 1926 abgelegt. Seit 1936 war er im Reichspatentamt tätig. Ab Mai 1943 war er für das Oberkommando der Kriegsmarine tätig. (Nutzt der Einsatz in der Kriegsmarine dem Fortkommen im Patentamt? Vermutlich. Vermutlich sogar sehr.) Er ist mit Wirkung vom 1. August 1953, also kurz vor Vollendung seines 53. Lebensjahres, zum Senatspräsidenten beim Deutschen Patentamt ernannt worden. Kornitzer starrt auf die Stellung dieses fernen Mannes, aber er sieht seine ihm gleich alten Kollegen im Landgericht nicht, er sieht nicht den eilfertig um jedes Mandat buhlenden Rechtsanwalt Damm, er sieht sich selbst nicht, er hat Wünsche und Hoffnungen, er verkennt die Wirklichkeit. Patente waren ihm früher nicht wichtig, warum jetzt? Oder ist ihm das Patentamt so wichtig geworden, weil er sich gegenüber seinem Präsidenten zurückgestellt fühlt? Da müssen sich viele Juristen zurückgestellt fühlen. Jede Pyramide hat einen breiten Fuß und eine nadelfeine Spitze. Nicht jeder, der irgendwo unten aufbricht, steigt auf. Wenn sich nach dem Jahre 1949 seine Hoffnungen auf weitere Beförderungen nicht erfüllt haben, so kann das etwaige Ausbleiben dieser Beförderungen nicht mehr auf nationalsozialistische Verfolgungsund Unterdrückungsmaßnahmen zurückgeführt werden. Eine Wiedergutmachung nach dem BWGÖD — dem Bundeswiedergutmachungsgesetz öffentlicher Dienst — scheidet deshalb insoweit aus. Der Antragsteller kann gegen den Wiedergutmachungsbescheid auf dem Verwaltungsrechtsweg beim Oberverwaltungsgericht Koblenz klagen, er hat eine Frist von drei Monaten nach der Zustellung des Briefes, so wird ihm beschieden.

Kornitzer klagt über den Zeitpunkt, an dem ihm dieser „formal-ablehnende“ Wiedergutmachungsbescheid zugestellt worden ist, nachdem er lange liegen geblieben ist. Wie hat er sich kundig gemacht, daß er liegen geblieben ist? Gerade hatten sich die Durchblutungsstörungen an Händen und Füßen, die Kreislaufschwäche ein wenig gebessert, nun scheint ihm der Erfolg der Behandlung grundsätzlich vereitelt. Der Blutdruck ist zu hoch, er hat Schwindelanfälle. Ein Attest hat ihm die Vermeidung psychischer und geistiger Überbelastungen dringend empfohlen. Auch auf das Treppensteigen soll er verzichten. Er schreibt dies an den Präsidenten des Landgerichts, gegebenenfalls zur gefälligen Weitergabe. Er lebt in dünner Luft. Er lebt wie mit angezogener Handbremse. Gibt es Einwände, die er vergessen hat? Manchmal geht er zum Rhein, sieht die Pontons der Schifffahrtslinien in ihrer silbrigen Mattheit, die Schwäne, die am Ufer tuckern, und er glaubt, das Wasser trüge ihn. Doch er will nicht getragen werden. Die letzte Enttäuschung, die ihn quält: Wenn die Illusion, illusionsfrei zu sein, sich als solche herausstellt. Und: Er ist der Auffassung, der höchste Grad der Gegenwart ist die Abwesenheit.

Aus der Verfolgung seiner Person ist eine Verfolgung seiner Ansprüche geworden. Er beantragt am Mittwoch, dem 22. Mai 1957, Dienstbefreiung unter Fortzahlung seiner vollen richterlichen Gehaltsbezüge ab Montag, dem 27. Mai, auf zwei Monate. Es eilt ihm, er will die Stadt verlassen, aber kennt doch auch die langen Dienstwege, die zu einer Dienstbefreiung führen. Drei bis vier Wochen seien notwendig, um ihm die Bearbeitung der Wiedergutmachungsangelegenheiten und die damit zusammenhängenden Sachen zu ermöglichen, schreibt er in seinem Antrag. Es handele sich „um die vordringlich gewordenen und gründlicher Durcharbeitung bedürfenden eigenen Wiedergutmachungssachen, auch im Zusammenhang mit der zur Zeit nicht mehr bestehenden richterlichen Unabhängigkeit und Gleichstellung meiner Person, ferner um Angelegenheiten meiner Frau und meiner Kinder. Dazu sind mehrere Reisen, Konferenzen und Ermittlungen nötig. Neben den Dienstgeschäften kann ich diese Sachen nicht besorgen.“ Zusätzlich bittet er um Dienstbefreiung, um eine vierwöchige Kur anzutreten, die die Berliner Wiedergutmachungsbehörde bewilligt und angeordnet hat. Sie ließe sich nur noch einige Zeit aufschieben. Er horcht in den Raum, er sitzt auf glühenden Kohlen im schönsten Frühjahr, er geht erwartungsvoll herum und lauert auf den Bescheid, der nicht kommt. Am 24. 5. 1957 schreibt der Landgerichtspräsident in Mainz an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Koblenz: Ich habe den Eindruck, daß Landgerichtsdirektor Dr. Kornitzer den mit der Verfolgung seiner Ansprüche verbundenen Arbeitsaufwand sowie Aufregungen nicht so gewachsen ist, als daß er daneben noch die ihm obliegenden Dienstgeschäfte in vollem Umfange zu führen vermöchte. Das war vornehm distanziert, aber in der Sache hart formuliert. Die Beurteilung strahlte die Gewißheit aus: Hier an dem Ort, an dem ich sitze, an der Stelle des Landgerichtspräsidenten, überblicke ich vollkommen die Lage. Dieser Richter, über den ich eine Beurteilung geschrieben (ein Urteil gefällt) habe, ist vollkommen ungeeignet, eine solche Position wie die meine auszufüllen. Ob er weiß, daß Kornitzer, seit er die Bemerkung über seinen massigen Körper in seiner Personalakte gelesen hat, häufiger Einsicht in seine Personalakte verlangt? Läse er, was der Präsident des Landgerichts über ihn geschrieben hat, er würde vier Wochen lang krank sein, krank vor Zorn, vor Erbitterung, krank vor Scham, bis ins Mark erschüttert. Und er ist ja schon krank, krank vor Aufregungen, krank von der Kränkung. Sein Herz rast, er schläft schlecht, wacht auf, schweißgebadet, und muß die Wäsche wechseln.