Er kämpft, er leidet, er kann nicht anders. Und er weiß auch nicht, nie wird er es erfahren, daß der Präsident des Landgerichts ein unmißverständliches Signal an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Koblenz sendet: Seit einiger Zeit ist seine Leistungsfähigkeit und auch die Qualität seiner Leistungen durch gesundheitliche Schwankungen beeinträchtigt. Die damit in Verbindung stehende seelische Depression hat ihn mitunter bei der Leitung der Sitzung beeinträchtigt, vereinzelt sogar zu dem Eindruck geführt, als beherrsche er den Akteninhalt nicht genügend. Wie und bei wem ist dieser Eindruck entstanden? Bei den Parteien? Bei seinen Beisitzern? Haben sie den Vorsitzenden der Kammer angeschwärzt? Oder hat der Landgerichtspräsident die Herren Hartmann und Nell um eine Stellungnahme gebeten, wie nach der Sitzung, in der Kornitzer einen Artikel des Grundgesetzes verlesen hat? Ist das zulässig? Hintertreiben sie seinen ehrgeizigen Aufstiegswunsch? Sie sind darauf vorbereitet, gefragt zu werden.
Am 15. Juni 1957 erreicht den Landgerichtspräsidenten in Mainz ein Schreiben des Oberlandesgerichtspräsidenten in Koblenz. Er hat in der Zwischenzeit das Ministerium der Justiz um Weisung in Kornitzers Angelegenheit gebeten — er will sich absichern — und teilt mit, wie das Ministerium in einem Erlaß vom 11. Juni Stellung genommen hat. Es sind keine Gründe ersichtlich, die über den Erholungsurlaub hinaus die Erteilung einer Dienstbefreiung unter Weiterzahlung der Dienstbezüge rechtfertigen könnten. Ich bitte daher, Landgerichtsdirektor Dr. Kornitzer in diesem Sinne zu bescheiden. Und so geschieht es auch.
Das Einzige, was ich jetzt tun kann, sagte sich Kornitzer, ist bis zum Ende den ruhig einteilenden Verstand zu behalten. Es war der Satz eines Mannes, dem der Prozeß gemacht wird, ein Prozeß, den er nicht wirklich begreift und dessen Ausgang in den Sternen stand. Aber er stand im Mittelpunkt, und der Mittelpunkt schwankte. Groll war nicht das richtige Wort. Groll war zu groß, zu rund, das Wort rollte, es war das Ende des Donnergrollens. Es war eine Bedrückung, die keinen Ort hatte, sie drückte nach allen Seiten, nicht wie ein Körper auf einem Kissen einen Abdruck hinterläßt, wie eine dunkle Erinnerung traurig macht. Das Empfinden zog sich auf einen einzigen Punkt zurück.
Kornitzer erkrankt wieder einmal, bittet um Krankenurlaub außerhalb von Mainz, er muß das Klima wechseln. Und das Klima heißt nicht nur: Regen und Feuchtigkeit, Industrieabgase, es ist das Klima der dauernden Anspannung, der Beschämung. Er will auch sein Gesicht nicht zeigen, es ist ein Gesicht, gezeichnet vom Verfolgungssyndrom. Er verschwindet, er möchte unsichtbar sein, er verreist. Vorher muß er das Oberlandesgericht informieren, er muß die Atteste vorlegen, abwarten, daß sein Arbeitgeber sich mit dem Zeitpunkt des Antritts der Kur einverstanden erklärt. All das regt ihn auf, und die Aufregung tut seinem Herzen nicht gut. Er gewöhnt sich an, theatralisch an seine Brust zu klopfen und dann die Hand resigniert fallen zu lassen. Claire macht ihn auf die Geste aufmerksam, und als sie ihm die Geste vorspielt, schüttelt er den Kopf: Nein, eine solche Geste macht er nicht. Er muß seine Kammer geordnet schließen, Fälle abwickeln oder ordnungsgemäß vertagen. Er fühlt sich allein, allein gelassen, einbetoniert mit den Fragen, die die längere Abwesenheit im Gericht aufwirft. Verabschiedet er sich? Oder reist er einfach ab, verschließt die Zivilkammer wie die Herzenskammern? Das Entschädigungsamt in Berlin hatte ihm auf einen Antrag hin im Januar 1957 wegen Ihrer anerkannten Gesundheitsschädigung: Herzmuskelschaden und Ausgleichsstörungen, allgemeine Aderverhärtung eine Badekur in Bad Tölz für die Dauer von 28 Tagen gewährt.
Alle Anordnungen des Badearztes, Anweisungen und Regeln des Entschädigungsamtes und der Kurverwaltung machen Kornitzer nervös, obwohl er ihren Sinn und Zweck vollkommen einsieht. Die Kur rauscht wie ein Wasserfall an ihm vorbei. Man kümmert sich um seinen Herzmuskel, die Durchlässigkeit der Adern, Blutverdünnung. Das Herz ist ein Organ, der Sitz einer undemokratischen Nebenregierung, es ist ein Unruheherd. Man behandelt nicht die Angst, nicht die Verletzung, die Empfindlichkeit gegen neue Verletzungen, man sieht nur das Organ. Daß der Knick in der Lebenslinie irreparable Schäden für die Verfolgten nach sich zieht, war den meisten Ärzten in den fünfziger Jahren nicht klar. Erst 1964 konstatierte der Heidelberger Nervenarzt Walter von Baeyer zur Psychologie von Verfolgungsschäden: Es war hier etwas Neues in Erscheinung getreten, chronische, äußerst hartnäckige, therapeutisch wenig beeinflußbare Beschwerden, Leistungsmängel, Veränderungen der sozialen Persönlichkeit, die sich (…) aus den furchtbaren, leib-seelisch-sozialen Schicksalen der Verfolgung entwickelt haben. Der betreuende Arzt in Bad Tölz schreibt eine Bescheinigung zur Vorlage bei der Dienststelle: Es war zunächst nur eine Kurdauer von 4 Wochen vorgesehen. Wegen der Schwere des Krankheitsbefundes halte ich eine Kurverlängerung von 14 Tagen für erforderlich. Der Patient ist während dieser insgesamt 6wöchigen Kur völlig arbeitsunfähig.
Der Arzt, gutwillig, engagiert, bemüht, versteht nicht, daß das Herz das Zentralorgan des Emigranten ist. Des Mannes, der Angst hat, viele Jahre lang. Angst um die Seinen, Angst um sich, Angst vor sich. Sein Patient hat keine andere Wahl, die Herzkrankheit ist ein Mechanismus des Sich-Wehrens und gleichzeitig eine Not. Man müßte seine Geschichte zurückdrehen bis in das Jahr 1933 und neu erfinden — und die Geschichte insgesamt. Tagträumereien, nutzlose Spekulationen, dagegen helfen Kaltwasseranwendungen.
Während Richard krank ist, übernimmt Claire das Ruder. So sehr wünscht sie sich eine Tätigkeit, eine Tätigkeit, die sie ausfüllt. Sie liest, sie denkt sich in die Personen der Bücher, die sie liest, hinein, das freut sie. Sie wünscht sich, ein Buch zu lesen über einen deutschen Beamten, aber sie findet keines. Mit einem Reclamheft und dem Dorfrichter Adam möchte sie sich nicht zufrieden geben. Jetzt denkt sie sich in ihren kranken Mann hinein, übernimmt eine Aufgabe für ihren Mann, während ihr eigene Aufgaben versagt sind. (Sie muß sich schonen.) Richard kurt, trinkt Wässer, läßt sich durchwalken, bespricht mit dem Arzt seine Panikattacken, und sie spannt ein Blatt in die Schreibmaschine ein, und dann noch ein anderes, es ist ein ausführliches Schreiben, und alles wird perfekt. Sie formuliert, als könnte sie so ein Imperium regieren. „Ich komme höflichst zurück auf das Urlaubsgesuch meines Mannes sowie auf das von unserem Hausarzt diesem Gesuch beigefügte Attest. Daraufhin ist ihm ein Urlaub gewährt worden.“ Sie vertieft sich in Richards Akten und setzt ein feines Schreiben an das Ministerium der Justiz in Mainz auf, ein Doppel sendet sie an den Landgerichtspräsidenten. Sie fürchtet sich vor nichts. „Auf Anraten unseres Hausarztes soll mein Mann während der Zeit seiner Kur sich mit seinen beamtenrechtlichen Angelegenheiten in keiner Weise befassen, das gilt insbesondere für die ganze Wiedergutmachungsangelegenheit im öffentlichen Dienst. Der Hausarzt und ich wollen im Einverständnis miteinander erreichen, daß mein Mann endlich einen gewissen Abstand zu der jahrelangen, bei allseitigem guten Willen unnötigen Quälerei und seelischen Belastung — die Ihnen ja hinlänglich in allen Einzelheiten bekannt ist — gewinnen kann. Ich habe mir von meinem Mann vor seiner Abreise die Vollmacht geben lassen. Ich bin aber erst jetzt an das Aktenstudium herangegangen, weil auch ich selbst einen Abstand schaffen wollte.“ Bei der Durcharbeitung der Akten bemerkt sie, daß der Bericht ihres Mannes vom 28. September des Vorjahres noch nicht beantwortet worden ist. Sie moniert das und bittet außerdem, Stenogrammberichte des Landtages und die Bundesdrucksache Nr. 1937 an sie zu schicken, „da ich diese Unterlagen zur weiteren Information unserer Rechtsanwälte benötige“. Ja, sie ist sehr selbstbewußt, obwohl sie geschwächt ist und die Schwächung ihres Mannes sie schmerzt.