Währenddessen verfertigen der Oberlandesgerichtspräsident, der Landgerichtspräsident, ja, genau der neue, vor dessen Ernennung Kornitzer aus dem Grundgesetz zitiert hat, und der Vizepräsident das Richterverzeichnis 1957 mit Äußerungen über Befähigung, dienstliche Leistungen, Gesundheitszustand, Führung und Charakter der Richter. Dr. Kornitzer, heißt es darin, ist ein überdurchschnittlich befähigter Richter mit guten, umfassenden Rechtskenntnissen, vor allem auf zivil- und handelsrechtlichem Gebiet. Er verfügt über ein sicheres Urteilsvermögen. In früheren Beurteilungen sind sein praktischer Blick und sein großes Verständnis für die wirtschaftlichen Zusammenhänge hervorgehoben, außerdem ist vermerkt worden, daß unter seiner Leitung die Zivilkammer manche grundsätzliche Entscheidungen gefällt habe, die auch der Nachprüfung in den oberen Instanzen standhielten.
Im Ganzen kann die frühere günstige Beurteilung seiner Leistungen nicht aufrecht erhalten werden. Ob es sich um einen vorübergehenden Rückgang seiner Leistungsfähigkeit handelt, hervorgerufen durch die Aufregungen, die Landgerichtsdirektor Kornitzer in Verfolgung seiner Entschädigungsansprüche empfunden hat und noch empfindet, und eine Steigerung der Leistungen nach Abklingen der Aufregungen erwartet werden kann, läßt sich zur Zeit nicht eindeutig beantworten. Die dienstliche und außerdienstliche Führung des Richters war einwandfrei; sein Gesundheitszustand war, wie schon bemerkt, im Berichtszeitraum beeinträchtigt.
Während Claire mit Eifer für ihren Mann tätig ist, ist er, entgegen dem ärztlichen Rat, für sich tätig. An den Abenden im Krankenzimmer sitzt er am kleinen Besuchstisch mit der Resopalplatte und schreibt. Gestochen scharf ist seine Handschrift, er schreibt Eingabe um Eingabe. Er kommt zurück nach Mainz, er weiß nicht, was in seiner Beurteilung steht, er weiß nicht, daß er mit dem Rücken zur Wand steht. Er kommt zurück, er riecht die Essigfabrik, er riecht die Schuhwichsefabrik, er riecht das Landgericht, er riecht das Justizministerium, und kaum ist er da, beginnt sein Herz zu rasen. Und er fühlt sich selbst im Schlepptau dieses Herzrasens. Er riecht sich selbst, im Nu ist er schweißnaß. Er sucht den Hausarzt auf, der schreibt sofort ein neues Attest: Herr Landgerichtsdirektor Dr. Kornitzer bedarf nach der sehr anstrengenden Badekur in Tölz einer 4–6wöchigen Nachkur. Herr Dr. Kornitzer ist während dieser Zeit dienstunfähig. Kornitzer legt dem Attest ein Schreiben an den Landgerichtspräsidenten bei: „Sehr geehrter Herr Präsident, in der Anlage überreiche ich höflichst ein Attest meines Hausarztes Dr. A. mit der Bitte, mir den Nachkur-Urlaub dementsprechend bewilligen zu wollen.
Mit verbindlichstem Dank
Ihr sehr ergebener Dr. Kornitzer LG. Direktor“
Auf dem Blatt findet sich ein maschinengeschriebener Vermerk: Landgerichtsdirektor Dr. Kornitzer ist heute fernmündlich davon verständigt worden, daß es einer Urlaubserteilung nicht bedarf, sondern daß er auf Grund des eingereichten Attests von Dr. A. als dienstunfähig für die Dauer von 6 Wochen angesehen wird.
Der LG. Präsident
Es herrscht Dürre in diesem Sommer, ein Fordern, ein Abfordern, ein Warten auf die Gegenseite. Ein unschönes Gleichgewicht, das nicht hält. Also muß Ordnung geschaffen werden, und der, der die Ordnung braucht, schafft sich aus dem Weg, schafft sich selbst aus dem Problemfeld, und das ist ein Ende, definitiv. Nun wird Rechtsanwalt Westenberger für ihn tätig, verhandelt im Justizministerium, er tut dies ruhig und mit viel Geschick. Und er benachrichtigt Kornitzer. Der Richter muß einen Antrag auf Versetzung in den Ruhestand stellen. Diesem Antrag wird stattgegeben. Gleichzeitig wird Kornitzer zum Senatspräsidenten am Oberlandesgericht Koblenz ernannt. Das ist eine Position, die er nie angestrebt hat. Er zieht sich zurück, die höhere Verantwortung (und die Ehre) entgeht ihm, allerdings erhält er eine höhere Pension. Das ist der Preis, den das Land zu zahlen bereit ist, um den unbequemen Mann loszuwerden. Zug um Gegenzug. Und Kornitzer nimmt wieder seinen Füllfederhalter und schreibt an den Landgerichtspräsidenten, und er bemüht sich, ganz ohne Emotionen zu schreiben: „Sehr verehrter Herr Präsident, in meiner Wiedergutmachungssache hat mir Rechtsanwalt Westenberger mitgeteilt, daß das Justizministerium vergleichsweise meine Pensionierung als Senatspräsident — ohne Auflagen oder ähnl. — vorschlägt. Ich habe diesen Vorschlag alsbald angenommen. Inzwischen dürfte auch die Einstufung für die Bezüge klargestellt sein. Da ich annehme, daß auch hinsichtlich des Datums (1. Okt. d. J.) der Pensionierung Einverständnis besteht, der Vergleich mithin praktisch perfekt ist, bitte ich höflichst, über meine Tätigkeit bis zum 1. 10. d. J. Verfügung zu treffen. Nach erfolgter Nachuntersuchung wird die abschließende Konsultation mit dem hiesigen Arzte am Dienstag (13. 8.) stattfinden. Ich werde danach nach Mainz zurückkehren, bitte jedoch noch um kurze Zeit Anschlußurlaubs in Anrechnung auf den Jahresurlaub.
Mit verbindlichen Grüßen
Ihr sehr ergebener Dr. Kornitzer LG. Direktor“
Keine Emotionen sind überliefert, nur Förmlichkeiten, Verbindlichkeiten, ein großes Pflaster auf einer großen Wunde, und dann den Blick abgewandt, den Sargdeckel geschlossen. Kornitzer, der so gerne Richter war, betritt das Landgericht nicht mehr. Das ist auch nicht nötig, niemand erwartet ihn. (Niemand will ihn sehen.) Ein Bote bringt ihm seine persönlichen Dinge aus dem Gericht nach Hause, er will auch den Boten nicht sehen, Claire öffnet und bedankt sich. Ein Justizinspektor und ein Regierungsoberinspektor werfen die Rechenmaschinen an. Und gegen die Berechnungen ist nichts einzuwenden. Das Besoldungsdienstalter, das Grundgehalt einschließlich der ruhegehaltsfähigen Stellenzulage, die Besoldungsdienstberechnung, alles muß überprüft und sorgsam in Formulare übertragen werden. Darunter steht: 1 Brief m. Zust. Urk. heute dem Wachtm. zur Post übergeben. Mainz, den 27. 8. 1957 Veit. Justizobersekretär. Mit einer anderen Schreibmaschinentype ist hinzugefügt: Nach dem Beschluß der Wiedergutmachungskommission in Koblenz vom 26. 9. 1949 ist Dr. Kornitzer besoldungsrechtlich so zustellen, wie wenn er nicht zum 1. 11. 1933 in den Ruhestand versetzt worden wäre. In den Ruhestand versetzt, das hört sich gemütlich an, ohrensesselhaft, schläfrig. In den Ruhestand versetzt ist eine plüschige Draperie über dem Rausschmiß aus dem Landgericht. Jetzt geht alles sehr schnell. Am 30. September 1957 schickt das Ministerium der Justiz ein Schreiben an den Herrn Landgerichtspräsidenten in Mainz mit der Bitte, die Ernennungsurkunde von 25. September 1957 und die Urkunde über die Versetzung des Richters in den Ruhestand vom 28. September 1957 noch heute zuzustellen und den Zustellungsnachweis vorzulegen. In einer schnörkeligen Handschrift mit dokumentenechtem Kopierstift hat jemand auf dem Papier bemerkt: Eilt sehr. Ja, einen Tag vor dem endgültigen Ausscheiden aus dem Landgericht sollte der gleichzeitig Erhöhte und aus dem aktiven Justizdienst Eliminierte Klarheit über seinen Rechtsstatus haben, der Schnitt ist getan, die Wunde blutet noch ein wenig nach. Und da ist die vornehme Ernennungsurkunde: