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Im Namen des

Landes Rheinland-Pfalz

ernenne ich

den Landgerichtsdirektor

Dr. Richard Kornitzer

zum Senatspräsidenten

Der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz

gez. Altmeier

(Links neben dem Namen prangt das Dienstsiegel.) Nein, keine Feier, kein Händedruck, kein Gläschen Riesling wie am Tag der Ernennung zum Landgerichtsrat in Mainz, auch nicht mit Claire im Schindelhaus, es ist ein ganz normaler Tag (oder er soll als ein solcher in Erinnerung bleiben, oder er soll überhaupt nicht in Erinnerung bleiben oder als ein Tag, an dem der Gerichtsbote geklingelt hat, der Tag, an dem eine Unterschrift bei der Aushändigung einer Urkunde verlangt wurde), der Tag, an dem etwas zu Ende ging. Kornitzer fühlt den Impuls, die Klappläden zu schließen, aber er tut es dann doch nicht. Aus Rücksicht auf Claire, aus Rücksicht auf die Nachbarschaft. Es ist ein ganz normaler Tag, jedenfalls will er das glauben, will es sich selbst glauben machen. Die Essigfabrik riecht, die Schuhwichsefabrik riecht, die Straßenbahn klingelt. Gegen siebzehn Uhr beginnt es leicht zu regnen, am Abend spiegelt sich das Muster der Straßenlaternen auf dem Pflaster, Claire hat Spinat mit Rührei zubereitet. Vielleicht war sie, als der Bote kam, viel aufgeregter als Richard. Dann ist es ruhig, und dann ist es doch Zeit, die Fensterläden zu schließen, Geborgenheit im Haus zu simulieren.

Jetzt sind die Tage lang, und die Nächte sind schlaflos. Mit Feuereifer stürzt sich Kornitzer in die Arbeit für seine Wiedergutmachung. Was er als Landgerichtsdirektor nur nebenbei erledigen konnte, wird jetzt groß geschrieben. Er kämpft um die Judenvermögensabgabe und geistert nachts durchs Haus, öffnet leise seine Schreibtischschubladen, und er öffnet sein Gedächtnis. Und was er verloren hat, steht so lebhaft vor ihm, als habe er es gestern verloren, es ist ein taktiles Empfinden für die Beraubung. Ein Viertel des Vermögens mußte bei der Auswanderung als Reichsfluchtsteuer abgeführt werden, der Rest konnte nur unter großen Verlusten umgetauscht werden. (Nach Kriegsbeginn ist der Anteil des Vermögens, das die Finanzbehörden einbehielten, auf 96 Prozent geklettert. Die Finanzbehörden sind der lange Arm des Faschismus. Die trappelnden Stiefel, das Gegröle, das pathetische Geschrei, die Verhaftungen, die Schmutzarbeit auf der einen Seite: dagegen die Formulare, die Drucksachen, die Bescheide, die rastergenaue Erfassung aller Juden. Den Finanzbehörden oblag es, die bürgerliche Existenz der Verfolgten auszulöschen. Mit den Mitteln der Ausplünderung wurde die Sondersteuer eingetrieben. Es kommt Kornitzer so vor, als habe er persönlich mit dem Erbe seiner Mutter die Aufrüstung und die Kriegsführung finanzieren müssen. Jetzt in den schlaflosen Nächten legt er Listen an. Er erinnert sich an folgende Bücher: 1 großes Corpus iuris in lateinischer Sprache, einen Band des hebräischen Textes des Alten Testaments mit Vokalzeichen, Hauffs Märchen in 2 Bänden, etwa 30 Bände Reichsgerichtsentscheidungen und etwa sechzig weitere Bände, die er nicht genau benennen kann, Fachbücher vor allem. Nein, ein großer Leser war Kornitzer nicht gewesen. Aber daß Claire in den letzten Jahren so viel liest und Bücher anschafft, von Menschen in den Büchern so plastisch erzählt, als hätte sie sie auf dem Wochenmarkt getroffen, gefällt ihm. Sie sieht zufrieden aus, wenn sie liest, auch schmerzfrei.

Er listet ein Ölgemälde aus dem Besitz seiner Mutter auf: Stettiner Bahnhof (den Maler kennt er nicht), ein Bild von Murillo: Antonius von Padua mit dem Jesuskinde, eine erstklassige Kopie, wie er meint, 4 große echte Teppiche, auch aus dem Besitz seiner Mutter (ein Täbris, ein Isfahan, ein Uschak, anspruchsvolle, hochnäsige Burschen aus dem Orient, und ein französischer Wollteppich), die in der modernen Wohnung in der Cicerostraße Fremdkörper waren und von denen die verderbende Wirkung der Möbelstücke, auch der Kinder, ferngehalten werden mußte. Und er führt das Porzellan auf (efeugrüne Randbetonung mit goldener Borte), einige Stücke sind restituiert worden, es fehlen noch etwa 80 Stücke, außerdem Figuren und Leuchter aus Porzellan. Aber seltsam, er kommt nicht auf den Gedanken, die feinen Stahlrohrmöbel, die Peddigrohrsesselchen aufzulisten, das Bauhaus-Teeservice mit der stromlinienförmigen Kanne, die strengen Kugellampen von Marianne Brandt, all die hellen, leichten Dinge, die Claire und er angeschafft haben, die verloren gegangen sind. Es ist, als hätten diese in der Zwischenzeit — durch die Vertreibung der Bauhauskünstler — auch ihren Wert verloren. Er kämpft um das Erbe seiner Mutter, aber auch um Claires Schreibmaschine, die sie glücklicherweise durch eine ähnliche hatte ersetzen können.

Und vor allem schmerzt ihn der Verlust des Armbandes mit den Saphiren, das er kurz vor seiner Emigration für Claire hat umarbeiten lassen. Unbedingt möchte er Claire das Armband zum zweiten Mal schenken. (Oder einen adäquaten Ersatz dafür.) Claire dagegen winkt ab: Es ist verloren, Richard, man hat es mir weggenommen. Das will Kornitzer nicht gelten lassen. „In der Restitutionssache Kornitzer gegen Dt. Reich und Stadt Berlin“, schreibt er, „sind die Sachen, soweit möglich, einzeln aufgeführt worden. Es ist eine Sache der Gegenpartei, die Einzelheiten der Ausplünderung durch die Nazis zu ermitteln, da ich 1939 nach Kuba flüchten mußte, um nicht von den Nazis ermordet zu werden.“

Aus dem Hause des Senators für Finanzen in Berlin erhält er die Antwort: — muß ich die Antragsteller bitten, das Bestehen ihrer Ansprüche nachzuweisen und unter Aufzählung der einzelnen entzogenen Vermögensgegenstände darzulegen, wann, wo, auf welche Weise durch welche Dienststelle des vormaligen Deutschen Reiches eine ungerechtfertigte Entziehung zu Gunsten des Vermögens einer der von mir zu vertretenden Rechtsträger erfolgt ist. In jeder Sache sind die entzogenen Vermögenswerte einzeln genau zu bezeichnen. Dies ist notwendig, da sonst nicht von ‚feststellbaren‘ Gegenständen gesprochen werden kann, hinsichtlich derer allein eine Rückerstattung in Betracht kommt. Die Art und Weise der ungerechtfertigten Entziehung muß genau schlüssig dargelegt werden. (Zeitpunkt, Behörde, Aktenzeichen, Anschrift des privaten Entziehers usw.) Bezüglich des Vermögens der Ehefrau ist es notwendig, die Entziehung in jedem einzelnen Falle darzulegen. Zunächst sehe ich mich genötigt, gegen den geltend gemachten Anspruch Widerspruch zu erheben.

Kornitzer notiert: „Die Gestapo hat Frau Kornitzer weder bei den Auspeitschungen noch sonstwie schriftliche Quittungen erteilt!“ Aber das ist noch kein Schriftsatz, der Satz muß erkalten, aber wie, wenn der Antragsteller sich aufregt, empört, sein Herz rast. Ja, es ist tatsächlich die Gegenseite, die das Haupt erhebt — und die Schreibhand, abwehrend, parierend, schneidend kühl und beamtenhaft regelmäßig: — sind bisher weder die Entziehung, noch Anzahl, Art und Güte der etwa entzogenen Gegenstände nachgewiesen. Ich muß daher zu meinem Bedauern beantragen, den Anspruch zurückzuweisen.

Einige Zeit später, nach vielem Hin und Her, heißt es aus dem Hause des Berliner Finanzsenates: In der Rückerstattungssache Kornitzer./. Deutsches Reich beantrage ich, den Antragstellern eine letzte Frist zur Beschaffung der in Ihrem Schreiben vom 16. Oktober 1958 gemeinten Beweisunterlagen zu gewähren und nach deren fruchtlosem Ablauf den Anspruch zurückzuweisen. Als Kornitzer dieses Schreiben in der Hand hält, beginnt er zu toben. Er will nach Berlin reisen, er will auf den Tisch hauen (welchen Tisch?), er will sein Recht, jetzt sogleich, und zwar zur Gänze. Claire ruft den Rechtsanwalt Westenberger an, der setzt wieder ein Schreiben auf. Kornitzer wartet und wartet, das Eintreffen des Briefträgers ist das Tagesereignis. Er könnte spazierengehen, am Rhein entlang oder auf den Höhen, auf denen jetzt Siedlungen gebaut werden, das täte seiner Gesundheit gut, er könnte mit Claire verreisen, eine Rheinschiffahrt, eine Reise auf eine Kanalinsel, sie könnten sich mit den Kindern in London treffen, all das sind gute Vorschläge, keinesfalls aus der Luft gegriffen. (Jeder würde ihm einen solchen Rat geben, aber er fragt niemanden.) Kornitzer sagt: Erst wenn die Wiedergutmachungssache abgeschlossen ist. Vorher habe ich den Kopf nicht frei. Claire nickt, sie versteht ihn, aber es fällt ihr schwer. Sein Kopf ist frei genug, um immer wieder bei der Akademie für Völkerrecht zu präsidieren, die strengen Formalien tun ihm gut, dort in Den Haag gibt es keine gegnerische Partei. Alle Teilnehmer der Seminare denken über die gleiche Sache nach, ziehen an einem Strang, sie arbeiten ergebnisorientiert, wie man ein halbes Menschenalter später sagen würde. Und: niemand raunt über ihn. Es wird viel diskutiert, aber auch viel gelacht und abends viel getrunken. Und dann fährt er nach Mainz. Der ganze Sommer ist zerpflückt, zerrupft, von Schreiben zu Schreiben Aufregung, von Termin zu Termin Hetze, von einer Gewitterschwüle bis zur Hitzewelle bis zum Frühnebel, der erste Sommer eines Senatspräsidenten im Ruhestand.