Выбрать главу

Kornitzer reist nach Berlin, stellt selbst Nachforschungen nach den Wertpapieren an. Vielleicht sollte er das nicht tun, er merkt es selbst, er stößt auf verschlossene Türen, er muß sie öffnen. Er stößt auf verschlossene Münder, das kennt er schon, aber die kann er nicht öffnen. Ein Senatspräsident im Ruhestand ist kein Rechercheur, er hat nicht die innere Freiheit, einen Fuß in die Tür zu stellen, er hat nicht die Freiheit, jemandem aus Prinzip lästig zu fallen. Er arbeitet in eigener Sache, das gibt der anderen Seite einen Schein von Objektivität, denn niemand hat ja persönlich die Wertpapiere aus dem Erbe seiner Mutter veruntreut. Das muß er doch einsehen.

Kornitzer kommt von der Berliner Reise nach Hause, ernüchtert, erkältet, schließt die Tür des Hauses auf und findet Claire auf dem Fußboden liegen. Sie hebt den Kopf, sie will etwas sagen. Es gelingt ihr nicht, sie lallt. Richard will ihr aufhelfen, aber sie bleibt liegen, lallt wieder und stöhnt. Hast du etwas getrunken, Claire? fragt Richard. Es war nahezu unmöglich, sich in Mainz nicht an die allgemeinen Trinkgewohnheiten anzupassen, das war die leichteste Übung. Richard betritt die Küche, kein ungespültes Glas, keine geöffnete Flasche, er hat Claire Unrecht getan, sie kann nicht aufstehen. Hat sie einen Schlaganfall erlitten? Er holt eine Decke, legt sie auf die Seite (stabile Seitenlage), flößt ihr ein wenig Tee ein, bestellt einen Krankenwagen. Jetzt spricht sie deutlicher. Es ist ihr auf der Treppe plötzlich schwarz vor Augen geworden, sie wollte sich festhalten am Geländer, aber das gelang nicht. So rutschte sie die Treppe hinunter. Sie weiß nicht, wie lange sie da in der Diele gelegen hat. Ja, sie hat versucht, ans Telephon zu robben, Hilfe zu holen, aber sie war zu schwach. Sie weint vor Schwäche, sie weint vor Demütigung durch die Schwäche, sie weint, weil sie allein war, als sie fiel. Wenn du da gewesen wärst, stöhnt es aus ihr heraus. Und dann verliert sie wieder das Bewußtsein.

Wenn du da gewesen wärst. Diesen Satz sagt er sich dann häufig vor, wenn er täglich zu Claire ins Krankenhaus fährt. Ihr Oberschenkelhals ist gebrochen, ihre Nierenwerte sind bedenklich, sie erholt sich nicht. Um an Krücken zu gehen, ist sie zu geschwächt. Wenn du da gewesen wärst. Wenn du nicht emigriert wärst. Wenn wir beide nicht in eine so verstörende Situation gekommen wären. Wenn du von Bettnang nicht nach Mainz gegangen wärst. Wenn du nicht nach Den Haag gereist wärst. Wenn du nicht in Berlin auf der Suche nach den Wertpapieren gewesen wärst. Eine ganze Latte von unausgesprochenen Vorwürfen. Dabei hatte sich Kornitzer in Berlin nicht einmal Zeit genommen, nachzusehen, was aus dem Universum geworden war und aus dem schönen Haus in der Cicerostraße. Gab es die Tennisplätze noch? Er war so unruhig, so mißmutig in Berlin gewesen, daß er sofort nach seiner gescheiterten Mission abgereist war. Andere hätten sich noch ein paar Stunden auf Cocktailsesselchen in einer stromlinienförmigen Bar am Ku’damm gegönnt. Doch dazu war Kornitzer in seiner verdüsterten Stimmung nicht in der Lage.

Er wendet sich noch einmal an die Wiedergutmachungsämter von Berlin. Er möchte jetzt unbedingt etwas für Claire erreichen. Wenn er schon bei den Wertpapieren aus dem Erbe seiner Mutter nicht fündig wurde. Das Armband, die Schreibmaschine, er ist beharrlich. Die Sondervermögens- und Bauverwaltung beim Senator für Finanzen in Berlin schreibt ihm zurück: Nach Überprüfung der weiteren Unterlagen kann nur davon ausgegangen werden, daß es sich bei der „Fortnahme der Schmucksachen und der Schreibmaschine durch die Gestapo“ um eine sogenannte „wilde Aktion“ gehandelt hat, so daß für den Verlust der beanspruchten Gegenstände das ehemalige Deutsche Reich nicht haftbar gemacht werden kann.

Kornitzer kann es nicht fassen, er schreibt noch am gleichen Tag zurück nach Berlin: „Wenn das eine ‚wilde Aktion‘ war, dann ist eben die ganze NS-Gewaltherrschaft bloß eine wilde Aktion gewesen. Sind 6 Millionen Juden in einer ‚wilden Aktion‘ ermordet worden? Ich finde das Vorbringen der Finanzverwaltung nicht nur unrichtig, sondern geradezu empörend, und schon gar in diesem Falle. Leider bin ich gesundheitlich zur Zeit außer Stande, die gebührende Antwort auf dieses Vorbringen zu erteilen, und bitte daher um eine weitere Frist.“

Claire soll aus dem Krankenhaus entlassen werden, aber sie kann nicht gehen, sie kann nicht stehen, sie kann die Treppe nicht erreichen. Kornitzer kann sie nicht tragen, die Aufregungen, sein Herz, seine Ungeschicklichkeit. Sie muß gepflegt werden. Er denkt an Selma, vielleicht hätten Mutter und Tochter noch einmal eine Chance, Nähe zueinander herzustellen unter ganz unterwarteten Bedingungen — nach so viel gegenseitigem Verfehlen. Aber Selma hat ihren jüdischen Freund geheiratet, sie ist im sechsten Monat schwanger, sie gehört zu ihrem Mann, sie gehört zu ihrem Kind, sie baut ein Nest, während das Nest ihres Vaters und ihrer Mutter zerfällt.

Es nützt nichts; Claire ist knapp über sechzig, sie muß in eine Pflegeeinrichtung, und Pflegeeinrichtungen sind Altersheimen angegliedert. Er sieht sich dieses und jenes Heim an, die Sanftheit der Nonnen, die Geschäftsmäßigkeit der Verwaltung, ein perfektes Rollenspiel. Die peinliche Ordnung der Zimmer, die Nüchternheit, die Sterilität, die Stumpfheit in den alten Gesichtern, das Warten auf Essen, das Warten auf eine Unterhaltung, das Warten auf das Unvermeidliche, den Tod. Er beißt die Zähne aufeinander und weiß, Claire wird es auch tun. Sie ist viel zu jung für ein solches Heim, sie ist viel zu arrogant, um sich von Pflegeschülerinnen waschen und lagern zu lassen. Sie ist viel zu eigenwillig, um das zerkochte Essen aus einer Großküche zu löffeln. Wärst du da gewesen. Jetzt ist er immer da. Er besucht sie, nimmt sich unendlich viel Zeit für sie, er fährt ihren Rollstuhl auf die sonnige Veranda.

Und nach den Besuchen führt er seine weitreichende Korrespondenz. Er schreibt Boris Goldenberg. Und wenn Goldenberg Kornitzer schrieb, war das eine feste verläßliche Verbindung nach Kuba. Kornitzer schrieb von den gradlinigen Karrieren, die zum Beispiel aus einem engen Mitarbeiter Albert Speers einen Staatssekretär im Bundesfinanzministerium machen, der ausgerechnet für die Wiedergutmachung an den Nazi-Opfern zuständig ist. Der Herr hieß Karl M. Hettlage und lehnte zwar taktisch die Wiedergutmachung nicht gänzlich ab, aber er beteiligte sich eifrig an dem zähen Abwehrkampf, um den Staatshaushalt gegen die Entschädigungsoffensiven der Nazi-Opfer zu verteidigen; so sah er es. Sein Steigbügelhalter in der neuen Karriere war Heinrich Lübke. Kornitzer hätte eine lange Reihe solcher Karrieren auflisten könne, aber er wollte Goldenberg nicht durch Klagen ermüden. Und Goldenberg berichtete nach Deutschland von den mit den Händen zu greifenden politischen Veränderungen in Kuba. Und Kornitzer schrieb zurück: „Daß diejenigen, die gelitten haben wegen ihrer Überzeugungen, in der neuen Gesellschaft von neuem an den Rand gedrängt worden sind, ihre Überzeugungen verbergen oder beschweigen müssen, gehört zu den unbefriedigenden Ergebnissen der Bundesrepublik.“ George oder Selma hätte er einen solchen Satz in einem Brief nicht geschrieben. Goldenberg antwortete: „Ihre Beobachtung trifft nicht nur für die Bundesrepublik zu. Leider.“ Daraus konnte Kornitzer Schlüsse ziehen über etwas, das Goldenberg vielleicht nicht der Post anvertrauen wollte. Boris Goldenberg war Professor in Kuba geworden und hatte sich in seiner Existenz eingerichtet.