Der Senator der Finanzen in Berlin hat den Wiedergutmachungsämtern das Ergebnis einer Ermittlung zukommen lassen, Abschrift an Dr. Kornitzer mit der Bitte um Erklärung, Frist 2 Monate. In dem Schreiben steht: Zwei Bewohnerinnen des Hauses in der Nürnberger Str., in das Claire nach der Aufgabe der Familienwohnung in der Cicerostraße gezogen war, seien gefunden worden und hätten Zeugenaussagen gemacht. Frau Wieczorek, Gartenhaus, zwei Treppen rechts, sei Luftschutzwart gewesen. In dieser Eigenschaft habe sie auch Gelegenheit gehabt, die Wohnung der Antragstellerin im Vorderhaus zu besuchen. Die Wohnung von Claire Kornitzer sei gut bürgerlich gewesen. An einzelne Gegenstände könne sich die Zeugin nicht mehr erinnern. Sie wisse, daß die Wohnung, nachdem Frau Kornitzer an den Bodensee umsiedelte (dienstverpflichtet wurde?), von einem Fräulein Cäcilia Klinge betreut wurde. (Ja, Cilly war eine treue, anhängliche Seele, auch als sie nicht mehr für Claire und Richard als Kindermädchen arbeiten durfte.) Wo die Möbel der Wohnung geblieben seien, war Frau Wieczorek nicht bekannt. Die zweite Zeugin war Frau Reyer, die im Vorderhaus vier Treppen hoch gewohnt hatte. Sie bestätigte, daß in der Wohnung viele Bücher, Porzellane und Grammophonplatten gewesen seien. In der Zeit, als Fräulein Klinge die Wohnung betreute, soll diese, da sie keine Unterstützung von Frau Kornitzer erhielt, Untermieter in die Wohnung genommen haben. In dieser Zeit sei von den Untermietern ein Buffet aufgebrochen und z. B. wertvolles Porzellan entwendet worden. Eine Beschlagnahme habe nie stattgefunden. Weiter hieß es in dem Schreiben: Da Frau Kornitzer Arierin war, wurde der Haushalt als arischer Haushalt angesehen und blieb unbehelligt. Da die beanspruchten Gegenstände nach Vorstehendem nicht zu Gunsten des Deutschen Reiches eingezogen und verwertet worden sind, halte ich meinen Widerspruch weiterhin aufrecht.
Kornitzer brachte den Bescheid ins Pflegeheim. Claire las ihn mit unbewegtem Gesicht. Am nächsten Tag diktierte sie ihrem Mann eine Stellungnahme. „Im Hause Nürnberger Str. 19 waren gerade diese beiden Frauen als klatschsüchtige Nazi-Anhängerinnen bekannt. Anonyme Denunziationen in der Umgebung wurden damals als von diesen beiden Frauen kommend bewertet. Als ich dies noch nicht wußte und neu zugezogen im Haus war, lud ich Frau Reyer einmal zum Kaffee ein. Die Einladung wurde nicht angenommen, weil diese Frau nicht aus Tassen trinken wollte, aus denen ‚ein Jude getrunken hatte‘. Frau Wieczorek als Luftschutzwart preßte mich dazu, in einer Beschußpause während eines sehr schweren Luftangriffes über den Boden des Haues zu laufen und nach Stabbrandbomben Ausschau zu halten. Ich durfte dies nicht verweigern, um nicht Gefahr zu laufen, am nächsten Tag eingesperrt zu werden. Ich erklärte mich daher bereit, dieser Aufforderung nachzukommen, wenn sie mit mir zusammen gehen werde. Sie hätte für diese Zeit ihr Amt an den stellvertretenden Luftschutzwart abgeben können. Da sie selbst zu diesem gefährlichen Gang wohl keine Neigung hatte, unterblieb dann die gemeinsame Unternehmung. Wenn in unserer Abwesenheit Zwangsuntermieter in die Wohnung eingewiesen wurden, so hat dies absolut nichts mit unseren Plänen zu tun und schon gar nichts damit, ob und wie an Fräulein Klinge (heute verh. Damwerth) gezahlt wurde oder nicht. Im übrigen war ich ja durch die Nazis völlig ruiniert und auch ständig zur Gestapo bestellt und mißhandelt worden. Ferner kann Frau Reyer aus eigenem Wissen doch niemals bekunden, ob und welche Sachen beschlagnahmt worden sind oder nicht. Auch ein Buffet war in unserer Wohnung nicht vorhanden; es hätte nicht zum Stil gepaßt.“ (Dieser Satz war „typisch Claire“.) „Gerade Frau Reyer weiß genau, daß mein Haushalt nicht unbehelligt blieb. Sie hat sich u. a. dafür eingesetzt, daß der Hausbesitzer mir den Empfang von Gästen, d. h. das Betreten meiner Wohnung durch jüdische Besucher (Sternträger), verbot, da sich die Mieter dadurch belästigt fühlten. Ferner sorgte sie dafür, daß ich meine Lebensmittelkarten selbst in der für Juden eingerichteten Stelle abholen mußte, weil sie selbst es nicht dulden wollte, daß der Blockwart Lebensmittelkarten in eine jüdische Wohnung brachte. Ein weiteres Zeichen für die ‚Nichtbehelligung‘ war, daß Frau Wieczorek ein Bett, das ich in den Luftschutzkeller brachte, wieder herauswarf, da angeblich jüdische Möbel nichts im allgemeinen Luftschutzraum zu suchen hätten.“
Kornitzer schrieb Claires Stellungnahme sorgsam ab, brachte sie ins Heim, und Claire unterzeichnete sie. Aber er antwortete nicht gleich auf das Schreiben der Berliner Wiedergutmachungsbehörde seine Frau betreffend, er antwortete sehr lange nicht, und dann, als er antwortete, versuchte er, die Fassung zu wahren. „Auch nach meiner Auswanderung ist meine Frau auf das Grausamste verfolgt worden. Sie wurde von der Gestapo oft mißhandelt, es wurden Sexualverbrechen der Gestapo an ihr begangen, man hat ihr Geschäft völlig vernichtet, ihr die Berufsarbeit verboten, sie in der Evang. Bekenntniskirche verfolgt usw. usw. Das ist der ‚arische Haushalt‘, der in dieser Weise unbehelligt blieb.“ Er muß sich hinlegen nach diesem Briefentwurf, er löscht das Licht nicht, er ist zu aufgeregt. Das Licht wirkt auf ihn wie eine Verhörlampe. Claire hat einer solchen Lampe häufig gegenübergesessen, geblendet, aber nicht eingeschüchtert. Am nächsten Tag hämmert er wieder in die Schreibmaschine: „Betr. 1939 — Ich hatte damals gar kein Bareinkommen mehr. Die Firma meiner Frau war durch die Nazis zerstört, und ich stand vor der Auswanderung. Außer Hausrat und sonstigen Werten hatte ich die von meiner Mutter geerbten Wertpapiere, womit ich die Schulden beim Zusammenbruch der Firma meiner Frau decken und meine Auswanderung finanzieren mußte. Für alle in dieser Weise aufgewendeten Sachwerte fordere ich Restitution und Erstattung der verlorenen Erträgnisse und Zinsen.“ Man schreibt ihm zurück: In der Rückerstattungssache Kornitzer./. Deutsches Reich bitten wir um abschließende Stellungnahme und Stellung eines bestimmten Antrages. Bei welchen Banken unterhielten Sie Konten? Können noch Konto- und Depotauszüge vorgelegt werden?
Gez. Dr. Bernstein LG. Direktor
Es gibt wieder eine Pause im Schriftwechsel, die zuerst wie ein Atemholen wirkt, aber das ist es nicht. Es ist eine Leere, ein Krater. „Überdies bin ich selbst mehrfach gesundheitlich behindert, und meine Frau ist nach Aufenthalten in mehreren Kliniken und einer Dauerpflegeabteilung im hiesigen Altenheim verstorben. Aus ihren Berichten ihren Widerstand und Leidensgang zu schildern, müßte mir Gelegenheit gegeben werden. Es war fürwahr ‚keine wilde Aktion‘. Es fand bei ihr eine Hausdurchsuchung statt, bei der durch die Gestapo die Schreibmaschine und der Schmuck, unter ihm ein kostbares Saphirarmband aus dem Erbe meiner Mutter, weggenommen wurden. Mit der Schreibmaschine z. B. waren die berühmten Erklärungen des Grafen von Galen durch meine Frau abgeschrieben und vervielfältigt worden.“ Claire hatte auch (oder gerade) nach Richards Emigration den Kontakt zum Büro Grüber aufrechterhalten, das protestantisch getauften Juden bei der Ausreise-Vorbereitung half. Es hatte ihr nichts genutzt, aber sie hatte die Empathie für andere, denen es noch nutzte, gebraucht, es war ein Teil von ihr selbst, der sie mit Richard verbunden hielt, und sie war weiter, auch als sie schon die elegante Wohnung in der Cicerostraße hatte aufgeben müssen, in die Hochmeisterkirche in Halensee zum Gottesdient gegangen. Sie hatte am Gemeindeleben teilgenommen, und dieses Gemeindeleben stand mit dem Rücken zur herrschenden Meinung, zur herrschenden Gewalt. Pfarrer Grüber hatte für sein Engagement im Konzentrationslager gebüßt. Mehr war dazu nicht zu sagen, und sie selbst war schweigsam gewesen über die Jahre ohne ihren Mann, und ihr Mann war ohnehin kein großer Erzähler, er wollte handeln, urteilen, er wollte Recht sprechen. Und jetzt feilschte er.