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Claires Nieren hatten versagt, sie war ihrem Leiden erlegen. Eine künstliche Niere war wegen ihres Krankheitsbildes nicht in Betracht gezogen worden. Das Gelagertwerden, das Gewendetwerden gegen das Wundsein, der Mangel an Tätigkeit war ihr nicht bekommen. Sie hatte ein Testament zu seinen Gunsten gemacht. Das hatte ihn gerührt, er hatte sie verstanden, während Selma und George ein Testament zu ihren Gunsten in seiner ganzen symbolischen Bedeutung vermutlich nicht verstanden hätten. Sie hätten den Mangel bemerkt, sie wären vielleicht enttäuscht gewesen. Oder ihre schlechte Meinung von der deutschen Mutter hätte sich verfestigt. Richard erbte ja nichts wirklich Bedeutendes, aber er erbte Claires Anspruch auf Wiedergutmachung, aus dem bisher nichts Substantielles erfolgt war, doch gleichwohl war er da: ein Menetekel. Zwei Jahre nach ihrem Tod werden ihm aus den beiden Lebensversicherungen zu ihren Gunsten 700,10 DM überwiesen. Aus seiner eigenen Lebensversicherung waren einmal 71,36 DM überwiesen worden, ein anderes Mal 98,11 DM.

Jetzt konnte ihm sein Rechtsanwalt Wilhelm Westenberger nicht mehr helfen. Er war im Mai 1959 zum Justizminister in Rheinland-Pfalz berufen worden. Es wäre ungut, wenn ein Minister Klientel-Politik für einen ehemaligen Mandanten betreiben würde. Kornitzer hatte Westenberger in aller Form zu seiner Ernennung gratuliert, und der Minister hatte gedankt. Und er war allein, allein, zwischen den dröhnenden Wänden des kleinen Schindelhauses. „Ich selbst bin krank, war in diesem Jahr zweimal je einen Monat in der Klinik und wurde vor zirka zwei Wochen ungeheilt entlassen. (Schweres Nervenleiden.)“ Verbunkert schien ihm die Wiedergutmachung, das Erbe seiner Mutter, die efeugrün umrandeten Teller, die Wertpapiere, das Saphirarmband, alles weg. Ja, der Anspruch besteht, aber der Anspruch ist nicht einzulösen wie ein Rabattbuch. Er selbst als Kläger, der er geworden ist, nachdem der Antragsteller erfolglos war, ist eine fiktive Gestalt, er spürt es, und das macht ihn verzweifelt.

Jetzt sah er sich im scharfen Gegenlicht, seine grämliche Gestalt, die Mundwinkel, die sich nach unten bogen, er sah seine schwere, dunkle Hornbrille, hinter denen er seine Augen im Spiegel nicht wirklich sah. (Oder wollte er sich selbst nicht in die Augen schauen?) Er sah seine untätigen Hände, auf ihnen die blauen Flüsse der Adern und erste Altersflecken auf den Handrücken, die Monde der Fingernägel, er sah sich und erschrak. Er sah seinen Hader, sah ihn wie eine zweite Gestalt hinter sich, eine dunkle Erscheinung, böse, streitbar, unzufrieden. Ganz leise schlich er von sich selbst fort. Kornitzer spricht in seinem Kopf mit seiner Frau, er findet sie nicht auf dem Friedhof, er glaubt sie im Bad zu sehen, da fühlt er ihre Scham über ihren aufgedunsenen Körper, und er schließt schnell die Tür. Er findet sie in der Küche, am Bügelbrett, am Herd. Er sieht ihr gleichmütig gewordenes Gesicht vor sich, er hört ihre Stimme, aber sein Herz klopft so laut, daß er nicht versteht, was sie sagt. Vielleicht rät sie ihm zu einer Reise: Ja, warum nicht in ein kleines Seebad nach Suffolk, der Lake District soll auch sehr schön sein, oder — das wäre doch das Einfachste — noch einmal an den Bodensee? Aber der See kommt ihm jetzt tief, abgründig und gefährlich vor. Oder er sollte das Enkelkind betrachten, Selma beglückwünschen zu ihrem neuen Leben. Aber das kann er nicht, während seines zerbrochen ist. Und er kann die Scherben nicht zusammensetzen.

Es fehlte ihm jemand, der sagte: Laß gut sein, Richard. Auch anderen Menschen ist Unrecht widerfahren. Du hast es im Gericht bemerkt und einen Beruf daraus gemacht, aber in deinem eigenen Leben willst du es nicht merken. Jemand, das hätte Fritz Lamm sein können oder Lisa oder Hans Fittko. Aber Hans war 1960 gestorben, so jung noch, was Richard verstört hatte. Hans war energisch, kraftvoll gewesen und so klug trotz einer bescheidenen Schulbildung, die ihm wegen seiner politischen Arbeit nur möglich war. Kornitzer konnte es kaum fassen, daß er tot war. Boris Goldenberg hätte es nicht sein können, er hatte sich weit entfernt von der deutschen Vergangenheit und betrachtete mit Argusaugen und mit klarem Verstand die kubanische Gegenwart. Er schrieb über Charidad, die er wohl kennengelernt hatte aus den Augenwinkeln, und er schrieb dringlicher über Amanda. Sie mußte jetzt, Kornitzer rechnete, gerade erwachsen geworden sein. Kornitzer brauchte jemanden, der ihm eine Hand auf den Arm gelegt hätte. Claire hatte dies am Anfang in Bettnang versucht, sehr leis, sehr eindringlich, aber er hatte nicht auf sie gehört, und dann hatte sie ihn in ehelicher Solidarität bei seinen Bemühungen unterstützt und auch für sich Genugtuung erhofft. So war es nie genug gewesen, so ließ er es nicht gut sein, und so war es auch nicht gut und wurde nicht mehr gut.

Das, was ihn in dieser Zeit elektrisierte und von sich fortriß, waren die Nachrichten aus Kuba. Er las Zeitungen und korrespondierte mit Boris Goldenberg. Das müde, übermüdete Regime, die handstreichartige Machtübernahme nach Castros Scharmützeln in der Provinz, all das konnte er sich gut vorstellen. Auch das Abwarten der Intellektuellen, das Taktieren und auch die archaisch rührende Lächerlichkeit, mit der die polacos — wie viele einfache Leute — den Sieg Castros am 1. Januar 1959 begrüßt hatten. Leider fand er weder eine spanische noch eine jiddische Quelle, und so las er staunend in Mainz, auf einem weichen Sessel sitzend: They saw Castro as a Messiah who came to save Cuba from corruption and violence. Das war ein großes Thema, zu dem er am liebsten Boris Goldenberg befragt und der mit seinem schönen russischen Bass in Máximos Hof „Nun ja, nun ja.“ gesagt hätte. Aber Kornitzer las auch eine Rede von Castro vom Dezember 1960, die auf die institutionelle Gewalt und die Rechtsprechung zielte. Die Rede war ein Peitschenhieb. Man mußte sich nach der Lektüre fragen: Was sollte überhaupt noch eine Rechtsprechung in Kuba? Kornitzer versuchte, Kontakt mit Rodolfo Santiesteban Cino aufzunehmen, aber als das nicht gelang, grübelte er darüber nach, ob sein Arbeitgeber nicht längst das Land verlassen hatte. Wie sehr sich Kornitzer auch bemühte, der Kontakt zu seinem früheren Arbeitgeber war abgebrochen.

Alle Welt fragt, so begann diese Rede Castros sehr rhetorisch: wann wird man endlich die richterliche Gewalt säubern? Womit befaßte sich denn überhaupt die zivile Justiz? Im allgemeinen mit Problemen, die das Volk nichts angingen: mit Hypotheken, Kündigungen, Erbstreitigkeiten, mit Rechtsstreitigkeiten zwischen Unternehmern, Grundbesitzern, Finanziers. Und heute? Wird etwa eine Kooperative die andere anklagen? Wird man Mieter dazu verurteilen, auszuziehen — wo es doch überhaupt keine Mieter mehr, sondern nur noch Eigentümer gibt? All diese Gerichte und die vielen Richter entbehren heute der Existenzberechtigung. Das war eine trübe Verführung zur Einfachheit, zumal wenn die vielen neuen Wohnungseigentümer nicht einmal einen Dichtungsring für eine tropfende Wasserleitung kaufen konnten und kein Dachdecker mehr zu bestellen war, wenn nach einem Hurrikan die Dachbalken offen lagen. Alle diese bürgerlichen Zwischenexistenzen, Handwerker, Richter, Lehrer, Gewerbetreibende waren uninteressant, unproduktiv. Sie trugen nichts zum revolutionären Prozeß bei. (Fidel Castro war selbst Anwalt gewesen; er mußte es wissen.) Auf Grund der Castro-Rede vom 19. 12. 1960, so las Kornitzer, traten allein acht Richter des Obersten Gerichts zurück. Am 22. 12. wurde ein neues Gesetz beschlossen, das den Präsidenten ermächtigte, neue Richter zu ernennen und das Gericht zu reorganisieren. Zwei Monate später war auch dieser Prozeß abgeschlossen.