In Bettnang las er das Amtsblatt, regelmäßig, eine neue Pflichtlektüre. Die Franzosen hatten sofort nach der Befreiung die schlimmsten Nazi-Gesetze außer Kraft gesetzt, beließen aber vorerst das Rechtssystem, so wie es war. Angehörige der Wehrmacht in oberen Rängen, Offiziere, NS-Verantwortliche mußten sich von Zeit zu Zeit polizeilich melden und jeden Wohnortswechsel angeben. Kornitzer las die Berichte aus dem Militärgericht und dem Amtsgericht, strenge Urteile, und schließlich fand er die Notiz, die er suchte. Ja, das bayerische Gesetz war auch in dem Landkreis, der nicht zu Bayern gehörte, in Kraft getreten. Alles Weitere war ein formeller Akt. Er stellte seinen Antrag, der bald bearbeitet wurde. Nun war er deutscher Staatsbürger, und die Zeit, die er aus der Staatsbürgerschaft entlassen worden war, schien weggewischt mit einer Unterschrift auf einem Blatt Papier. Er wußte nicht, was er dabei empfinden sollte. Er hatte sich die Einbürgerung als einen wichtigen Schritt gewünscht, nun fiel es ihm schwer, sich zu freuen, denn er war abgelenkt von einem Hinweis: Eilt hatte jemand mit Handschrift neben die Kopfzeile des Briefes geschrieben und mit der Bitte um Stellungnahme. Dr. Kornitzer ist als 2. Vorsitzender des Kreisuntersuchungsausschusses für die politische Säuberung vorgesehen.
Daß Kornitzer politische Säuberungen anvertraut werden sollten, freute ihn einerseits, es war verantwortungsvoll. Andererseits fürchtete er auch, mit Menschen zusammenzutreffen, die auf der anderen Seite standen, die profitiert hatten, während er in der Dürftigkeit, in der Ausgesetztheit litt. Claire war viel skeptischer als er — natürlich, er hätte wieder eine Aufgabe —, aber gewiß würde er auch angefeindet als ein Mitglied im Ausschuß, niemand wolle diese Arbeit gerne machen. Gewerkschafter säßen in den Ausschüssen, Parteimitglieder, „demokratische Kräfte“, wie man so sagte, und jemand, der zum Richteramt befähigt sei. Das bist du! so erklärte Claire das Verfahren ihrem Mann. Also eine Warteschleife. Die Deutschen waren doch eine Volksgemeinschaft, eine Schicksalsgemeinschaft, das hatte man ihnen eingeimpft, da wollte niemand gerne über einen anderen aussagen, denn er brauchte selbst Zeugen, die für ihn aussagten. Die Briten ersparten Hausfrauen, Rentnern und Freiberuflern die Säuberungsprozedur, die Franzosen nicht. Der Heidelberger Staatsrechtler Walter Jellinek hatte schon 1947 öffentlich gefordert, es dürfte […] gar nicht gestattet sein, den entsühnten ehemaligen P.G. an diese traurige Zeit seines Lebens zu erinnern. Es kursierte das Wort vom „Entnazifizierungsgeschädigten“, aus dem im Nu ein „Entnazifizierungsopfer“ geworden war, gleichgültig, wie eng seine Verstrickung mit dem Dritten Reich war.
Im Amtsblatt, sagte Claire, waren seit Sommer 1946 lange Listen mit den Ergebnissen der politischen Säuberungen abgedruckt. Diese Beschlüsse, so hieß es, träten mit ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft. Das waren unangenehme Nachrichten für die Entnazifizierten. Ihre Strafe, wenn sie denn vollzogen wurde, war stadtbekannt. Zuerst sei der gesamte Beamtenapparat durchleuchtet worden, viel zu langsam, viel zu umständlich, Versetzung, Zurückstufung im Dienstalter und in der Gehaltsklasse, Zwangspensionierung oder Entlassung ohne Pension oder auch Einzug eines in der Nazizeit angesammelten Vermögens seien die Strafen gewesen. Selbstreinigung, Autoépuration, hätten die Franzosen diesen Vorgang genannt. Aber mit dem Willen zur Reinigung sei es nicht so weit her gewesen. Das Amtsblatt habe berichtet, es bestehe Veranlassung, darauf hinzuweisen, daß die in den Gemeinden tätigen politischen Beurteilungsausschüsse ihre Arbeit im Auftrag der Militärregierung ausüben; mit der sachlich gebotenen Strenge, jedoch gerecht und verständig unter Ausschaltung aller persönlichen Beweggründe. Jede Kritik oder Bedrohung der Mitglieder dieser Ausschüsse, hauptsächlich von Seiten der betroffenen ehemaligen Mitglieder der NSDAP, ist unangebracht und wird mit aller Strenge verfolgt. Also hatte Claire Angst, daß ihr Mann bedroht werden könnte, wenn er Mitglied eines Säuberungsausschusses auf Kreisebene wird? Das sagte sie nicht so genau. Es ist nur ein Anfang, ein notwendiger Anfang, darauf beharrte Kornitzer, eine Arbeit, die getan werden muß. Sie sollte längst getan sein, antwortete Claire. Lieber gründlich als schlampig, Kornitzer wollte das letzte Wort behalten und hatte es auch.
Die neue Tätigkeit nahm Kornitzer den Atem. Er arbeitete wieder in seinem Beruf, er richtete, er wägte ab, er fällte Urteile, das war es, was er wollte, was er so lange entbehrt hatte. Er bekam die ellenlangen Leporello-Bögen zu Gesicht, ausgefaltet waren sie mehr als zwei Meter lang, in der die französischen Behörden nach allen möglichen Verwicklungen fragten, nach Mitgliedschaften in Untergruppen der NSDAP, in berufsständischen Vereinigungen bis zur NS-Frauenschaft. Jede Behörde, jede Berufsgruppe, jede Firma wurde geprüft. Seine Arbeit begann mit dem städtischen Schlachthof. Alle vor dem 1. 1. 1928 geborenen Angestellten und Beamten der öffentlichen Verwaltung mußten ihren Fragebogen zur Einleitung der politischen Säuberung abgeben. Und es hieß auch, daß allen Personen, die Ansprüche auf Grund des Wiedergutmachungsgesetzes erheben wollen und noch keinen Säuberungsbescheid besitzen, Gelegenheit gegeben werde, die Einleitung des Säuberungsverfahrens zu beantragen. Kornitzer traute seinen Augen nicht. Da war er entlassen worden, aus dem Land gejagt worden, und nun mußte er beweisen, daß er nicht heimlich doch eine Funktion in Deutschland hatte und ganz oben, ganz verborgen ein satanischer Doppelspieler war. Es war wie eine Selbstvergewaltigung; er tat sich Schmerz an, der den Schmerz, der ihm angetan worden war, verstärkte.