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Boris Goldenberg ließ seinem Zorn über die Entwicklung in vielen Aufsätzen freien Lauf. Er hatte als Halbwüchsiger die russische Revolution erlebt, er kannte die Vorboten, die Höhepunkte, die Enttäuschungen, wußte, wie es gekommen war, und warum es den Bach hinunterging, was er ersehnt, wofür er gekämpft hatte. Er war bewundernswürdig, und Kornitzer bewunderte ihn aufrichtig. Ehe er es sich versah, war die Universität von Havanna gleichgeschaltet worden. Die Revolutionäre hatten jede Menge Vorwürfe gegen diese Institution, die von jeher ein Hort aller revolutionären Bewegungen gewesen war. Am 9. Mai 1960 erklärte der neu gegründete Studentenverband unter Major Cubela, die Autonomie der Universität müsse beseitigt werden, falls sie der Revolution im Wege stehe. Das war ein deutliches Signal. Die private katholische Universität Villanueva wurde im Frühjahr 1961 verstaatlicht, die große Mehrheit ihrer Professoren war ins Ausland geflohen, auch der Rektor und der stellvertretende Rektor der Universidad Santa Clara. Der Vorsitzende des Studentenrats Porfirio Ramirez war als Aufständischer in den Bergen Zentralkubas gefangen genommen und hingerichtet worden.

Auch in den Gewerkschaften wurde geholzt und aufgeräumt, das Arbeitsministerium bekam das Recht, bei ihnen zu intervenieren, das bedeutete: unliebsame Funktionäre abzusetzen. Bei fast allen, die ihres Postens enthoben wurden, handelte es sich um Castro-treue Gewerkschafter, die erst nach den Säuberungen in den ersten Monaten des Jahres 1959 in ihre Funktion gelangt waren. Eine lautstarke offiziöse Propaganda warb für freiwillige Arbeit und mehr oder minder freiwillige Abgaben zur Anschaffung von Waffen, von Petroleumtankern, von Kühen für die Kooperativen, mit anderen Worten: für Sondersteuern. Und es fiel nicht leicht, sich dieser Pflicht zu entziehen. Was man früher Ausbeutung genannt hatte, war nun Dienst am Volke, und nicht jeder Arbeiter dachte so klassenbewußt, um den entscheidenden Unterschied zu erkennen, schrieb Goldenberg ironisch. Die Minister — mit Castro an der Spitze — betätigten sich vor der Presse und vor Photographen eifrig als sonntägliche Zuckerrohrschneider oder Bauarbeiter. Das kam gut an. Zur systematischen Bekämpfung der Konterrevolution wurden Komitees zum Schutze der Revolution ins Leben gerufen, die sich krakenhaft in allen Häuserblocks, Dörfern und Kooperativen ausbreiteten und sich das Recht auf Einmischung in alles Mögliche nahmen. Goldenberg kritisierte, es gebe keine Tradition lokaler oder regionaler Selbstverwaltung, der Aufbau eines politischen Zwangsapparats war ihm zuwider. Er kritisierte, daß Kuba — mit vollem Einverständnis Castros — ein Satellitenstaat Moskaus wurde, wie es vorher ein Hinterhof, eine abschüssige Hintertreppe in die USA gewesen war.

Dann erreichte Kornitzer ein Telegramm von Goldenberg: AMANDA KOMMT VIA FRANKFURT MAIN. Und es folgte ein Datum. Eine gänzlich unerwartete Nachricht, nicht einmal eine Nachricht aus einem Traum. So stand er an einem frühen Dezembermorgen am Frankfurter Flughafen in einem Sonderbereich Amanda gegenüber. Gänzlich unvorbereitet und sprachlos — sein Spanisch war in eine tiefe Herzensfalte gerutscht und wollte nicht gleich über die Lippen. Aufmerksam stand sie da, nicht sonderlich übernächtigt nach dem langen Flug, sehr hellhäutig, und sie war groß, fast so groß wie er. Sie stand ihm in Augenhöhe gegenüber (wie Claire es getan hatte, nur Charidad, zierlich, beweglich, hatte eine fremde Körperlichkeit), es schien, als sei sie gar nicht aufgeregt, im Gegensatz zu ihm. Und sie hatte, anders als Georg und Selma, als er sie als Halbwüchsige wiedertraf, ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Ein Lächeln, als gebührte das dem fremden Vater in Deutschland. Und Kornitzer lächelte zurück; etwas schmolz. Und aus der Erinnerung an die erste Wiederbegegnung mit Selma schoß es ihm durch den Kopf: Ich darf sie nicht berühren! Ich darf sie nicht umarmen! Vielleicht, sagte sich Kornitzer später, hätte Amanda eine Berührung durch den fremden Vater genossen. Und so stand er steif neben ihr, in seinem schweren, dunklen Wintermantel, sie dagegen trug ein windiges, schäbiges Mäntelchen, Schuhe mit zu dünnen Sohlen, aber anstatt die kalten Hände in den Taschen zu vergraben, fuchtelte sie damit herum, wies auf ihre Gepäckstücke. Sie sprach mit einer für eine junge Frau ungewöhnlich tiefen Stimme, selbstbewußt wie ihre Mutter und eigenwillig, wie sie ihr Gepäck aufnahm und es den Vater keinesfalls tragen lassen wollte. Es kam ihm vor, als schone die kraftvolle Tochter ihn.

Er erledigte die schwierigen Formalitäten der Einreise mit ihr. Ja, sie war eine Asylantin, ein politischer Flüchtling. Nach einer Wartezeit auf einer harten Bank blieb es ihr erspart, in eine Notunterkunft, in ein Heim eingewiesen zu werden. Kornitzer bürgte für sie, er verpflichtete sich, im Notfall (was hieß hier Notfall?) für sie zu sorgen. Daß ein Senatspräsident a. D. eine junge Kubanerin in Empfang nahm, das machte Eindruck bei den Beamten am Flughafen, alles war leichter, als er es erwartet hatte. Der Grund seines Engagements für die junge Kubanerin blieb den Beamten verborgen. Unlauter schien es nicht. Man notierte seine Adresse, Amanda würde Befragungen über sich ergehen lassen. (Kam sie in einer Mission, war sie zur Spionage angeheuert, aufgestachelt worden? Was konnte sie über ihr Land berichten, welche brisanten Interna wußte sie? Ein Herr vom Bundesnachrichtendienst würde sie befragen, einmal, zweimal, mehrmals vielleicht.) Es war auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Nicht jeden Tag kam eine Asylantin aus einem mittelamerikanischen Land am Frankfurter Flughafen an.

Im Schindelhaus zeigte Kornitzer der Tochter die Zimmer und ließ sie wählen, ob sie Georges oder Selmas Zimmer benutzen wollte. Nach einem kurzen, kritischen Blick auf die Druckgraphik mit den blauen Pferden entschied sie sich für Georges Zimmer. Den Globus drehte sie so, daß Amerika im Blickfeld lag. Sie sprach mit Wärme von ihrer Mutter, aber auch mit Respekt. Sie sagte, wie schwer sie es habe in der Schule, die sie doch liebe. Alles sei jetzt ideologisiert in Kuba, der Mathematikunterricht bestehe darin, auszurechnen: Wenn im Jahr 1956 soundsoviel Prozent der kubanischen Bevölkerung Analphabeten gewesen seien, wieviel es heute nur noch seien. Das Bildungsmonopol der Besitzenden solle gebrochen werden. Aber weder Charidad noch die Kusine und ihr Mann seien Besitzende. Noch im nachhinein empörte sich Amanda darüber, daß im April 1961 alle höheren Schulen geschlossen worden waren, die Schüler wurden nach rasch organisierten Schnellkursen als Alphabetisatoren aufs Land geschickt. Was, um Himmels willen, konnte ich denn jemandem beibringen? Alten Leuten? Männern, die Zuckerohr ernten und nie einen Bleistift in der Hand gehalten hatten? fragte Amanda. Fast alle Kasernen seien in Schulen verwandelt worden, aber was für Schulen! höhnte sie. Pseudo-Enthusiasmus wurde belohnt, sorgsames Abwägen wurde gebrandmarkt. Nur ein großes JA wurde akzeptiert, aber auch das sei vielleicht in einem halben Jahr nicht vollmundig genug gewesen. Die neuen Lehrer seien in den Bergen ausgebildet worden, das hieß, sie wurden politisch geschult und körperlich ertüchtigt. Nur für ihren Verstand fiel nicht allzu viel Schulung ab; und Didaktik war ein Fremdwort. Charidad, die eifrige Lehrerin an einem Jungengymnasium (das jetzt als eine ehemalige elitäre Bonzenschmiede galt und gründlich „gesäubert“ worden war), mußte sich pausenlos die Haare gerauft haben, das begriff Kornitzer ohne viele Erklärungen von Amanda.