Auch über die Ziehmutter und den Ziehvater und die Geschwister in dem großen Haushalt in der kleinen Stadt sprach sie mit Wärme. Das war gleich deutlich: Amanda hatte ein großes Herz, in dem viele verschiedene Menschen Platz hatten. Der Ziehvater, erzählte sie, war inzwischen nach Florida emigriert und hatte Arbeit gefunden. Er versuchte, nach und nach die Familie zu sich zu holen (das kam Kornitzer bekannt vor), aber sie, Amanda, hätte, als sie den Plan verstanden hatte, gleich gesagt: Sie möchte nicht nach Florida, sie möchte, nein, sie müsse nach Paris. Warum Paris? fragte Kornitzer einigermaßen erstaunt. Ich singe, sagte sie mit der größten Selbstverständlichkeit. Das heißt, du möchtest eine Gesangsausbildung in Paris machen? Sie antwortete nicht direkt. Doch dann platzte es aus ihr heraus: Paris ist die Hauptstadt des Chansons, oder? Das mußte Kornitzer zugeben. Da muß ich hin, sagte sie. (Wieder mit der größten Selbstverständlichkeit.) Sie hatte schon Französisch gelernt — bei einer Nonne mit einer soo großen Flügelhaube, sie breitete die Arme aus, und Richard war überzeugt, daß sie heftig übertrieb. Ángel de la guarda, Schutzengel nannte sie die geflügelte französische Nonne zu seiner Überraschung. Manchmal sang die Tochter in ihrem Zimmer, auch auf der Treppe oder in der Küche, die sie gleich in Beschlag genommen hatte. Richard wußte nicht, ob es ihm gefiel oder nicht. Es war machtvoll, ihr Singen füllte das Haus, und das Gefühl, das ihn überwältigte, hatte keinen anderen Begriff als AMANDA SINGT. Ja, es fehlte ihm ein Begriff, eine Beurteilung, aber das machte nichts.
Kornitzer mußte sie ziehen lassen, wie er Charidad hatte gehen lassen müssen, wie er Selma und George ihren Willen lassen mußte, er hatte schon Erfahrung, und mit dieser Erfahrung fühlte er sich alt. Und während er schlaflos dalag, im Nachbarzimmer die neu gewonnene Tochter, die ihn glücklich machte auf unbestimmte Weise, sagte er sich: Ich bin nach Kuba gegangen und zurückgekommen. Claire ist geblieben, wo sie war, und Charidad ist geblieben, und der Globus hat sich gedreht, und die Zeiten haben sich geändert, und Amanda ist von Kuba nach Europa gekommen, und die Doppelseite aus dem Atlas, die sie mitgebracht hatte in der Handtasche, war gut präpariert. Frankfurt war unterstrichen, und ein wenig westlicher von Frankfurt war in die grüne Grundfarbe des Atlas „Mainz“ geschrieben worden (von Charidad, der gründlichen Geographie-Lehrerin?), und auf der linken Seite des Atlas war noch ein Stück von Frankreich zu sehen, bis Metz etwa, und Paris war abgeschnitten, Amandas Sehnsuchtsstadt, wie auf dem Photo, das Charidad ihm mitgegeben hatte, die Hand, die das kleine Mädchen hielt, abgeschnitten war. Und nun mußte er seine Hand, die er Amanda gereicht hatte, abschneiden, damit sie gehen konnte. Er richtete ein Konto für sie ein, kaufte Schuhe mit ihr, einen seriösen Wintermantel, eine Notentasche und einen lustigen Regenschirm, obwohl sie der Meinung war, in Paris regne es nie. (Sie hatte französische Filme gesehen!) Ein Regenschirm hilft auch gegen zudringliche Männer, erklärte er. Darüber lachte sie unbändig und akzeptierte das sperrige Geschenk. Ángel de la guarda, antwortete er auf ihren Heiterkeitsausbruch.
Auch Goldenberg kehrte Kuba den Rücken, nach 19 Jahren im Lande sah er keinen Sinn mehr in seinen politischen Anstrengungen. Er reiste nach England, schrieb ein brillantes Buch über die kubanische Revolution, in dem er seine Enttäuschung, so gut es ging, mit wissenschaftlicher Abstraktion zügelte. Nach vier Jahren zog er nach Köln weiter, wo er die Lateinamerika-Redaktion der Deutschen Welle übernahm. Es zählte nicht mehr, ob dies eine weitere Station seiner Emigration war oder eine Heimkehr.
Amanda war eine bessere Briefschreiberin als Charidad. Und wie beschäftigt sie war, Auftrittsmöglichkeiten ausfindig zu machen, Kontakte zu knüpfen und Lieder zu schreiben. Sie schickte ihrem Vater Texte und Noten, die er nicht lesen konnte; dann schließlich eine Schallplatte und ein paar gute Kritiken dazu. Er las von der Sängerin mit den kubanisch-deutschen Wurzeln, und es war ihm, als läse er über eine gänzlich fremde Künstlerin, und dann war er stolz auf sie und schrieb zurück: Wohnst du auch gut? Und: Ist dein Zimmer warm? Du darfst dich nicht erkälten. Und hältst du deine Stimmbänder warm? Mütterliche Fragen, mütterliche Ermahnungen. Und er fügte einen Scheck hinzu. Sie dankte ihm postwendend. Nein, Geld brauche sie nicht. Sie singe, sie habe eine Gage. (Das Wort schrieb sie groß, als wäre es ein Zauberwort. Und malte ein kindliches Herz unter ihren in Eile geschriebenen Brief.)
1970 bot die Oberfinanzdirektion Berlin Kornitzer in gütlicher Einigung, wie sie selbst befand, ohne Anerkennung der Rechtspflicht einen Schadensersatz von 3.000 DM an. Ich weise darauf hin, schrieb der Bearbeiter seines Falles, daß auch nach den eigenen Angaben der inzwischen verstorbenen Antragstellerin nicht festzustellen ist, ob es sich um eine amtliche Beschlagnahme oder um eine reine Plünderung gehandelt hat und daß zum Umfang des Verlustes nur summarische Wertangaben ohne eingehende Beschreibung der verloren gegangenen Gegenstände vorliegen.
Verloren gegangen? Wird vage vorausgesetzt, daß Claire unachtsam war? Daß sie kopflos das Armband hat offen liegen lassen, als die Gestapo in ihre Wohnung eindrang, vielleicht weil sie Kompromittierendes hatte verschwinden lassen? Auch der Krieg war ja angeblich verloren gegangen, aber niemand hatte ihn gefunden. Kornitzer schreibt unverzüglich an die Oberfinanzdirektion zurück, und das soll wirklich der letzte Brief sein, er will nicht mehr, er kann nicht mehr: „Trotz einiger Bedenken bes. bezüglich der Höhe der Erstattung nehme ich zur endlichen Bereinigung dieser Sache den Vorschlag hiermit an. Danach werden mir wegen des Verlustes von Schmucksachen und einer Schreibmaschine der Geschädigten, meiner seligen Ehefrau Claire Kornitzer, geb. Pahl, zum Ausgleich aller Ansprüche 3.000 DM Schadensersatz geleistet. Ich erkläre, daß damit alle irrtümlich im Entschädigungsverfahren angemeldeten Rückerstattungsansprüche nach der Geschädigten erledigt sind. Doppel anbei und gleichzeitig direkt an die Wiedergutmachungsämter.“
Das Urteil ist gesprochen worden. Er hat das Urteil angenommen. Er muß den Brief ein zweites Mal schreiben, Nässe ist auf das Papier getropft, hat seine Unterschrift verwischt, offenbar Nässe jenseits der Brillenränder. Sie hat sich am Kinn gesammelt; es wäre ein Leichtes gewesen, sie wegzuwischen, aber er hat sie nicht bemerkt. Es wäre ein Leichtes nach so viel Schwerem, den Brief noch einmal abzuschreiben. Aber er tut es nicht, er ist erschöpft. Morgen ist auch noch ein Tag.
Rätsel
Im Sommer 1974 erreichte George Kornitzer ein Brief, der ihn vollkommen überraschte. Der Briefkopf war: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. (Wie hatte der Brief ihn gefunden? Auf welchen Umwegen? Wer hatte recherchiert?) Eine Mitarbeiterin schrieb ihm, daß die Redaktion beabsichtige, seinen Vater, Dr. Richard Kornitzer, in dieses enzyklopädische Handbuch aufzunehmen. Und sie bat den Sohn höflich, die Lebensdaten, die die Redaktion gesammelt hatte, zu bestätigen und — wo nötig — zu korrigieren und zu ergänzen. Dürre Daten, in denen aber etwas aufblitzte von dem, was Kornitzer ausgemacht hatte. Es könnte George stolz machen, daß sein Vater nicht vergessen ist. Und Richard Kornitzer, der 1970 gestorben war, wäre in Zukunft auffindbar unter Wissenschaftlern, Künstlern, Gelehrten und Politikern in der langen ehrenvollen Reihe der aus dem Land Gejagten.
George Kornitzer ließ den Brief einige Zeit liegen, etwas bedrückte ihn, aber er wollte sich keine Rechenschaft darüber ablegen, was es war. Antworte, antworte doch, flehte seine Frau ihn an. Das ist doch großartig. Und sie las die Stationen Kornitzers, die aufgeführt waren in dem biographischen Artikel, mit ihrem rollenden englischen Akzent herunter, ein Stationendrama im Stakkato, Jahreszahlen und Stufen, Jahreszahlen und Ehrungen, 1. Juristisches Staatsexamen, 2. Juristisches Staatsexamen, Promotion, Gerichtsassessor in Berlin, Zwangspensionierung, Auswanderung nach Kuba, dort Rechtskonsulent, Rechtsbeistand für andere Emigranten, Rückkehr nach Deutschland, Vorsitzender des Lindauer Kreis-Untersuchungsausschusses für die politische Säuberung, Einstellung als Landgerichtsrat in Mainz, Ernennung zum Landgerichtsdirektor in Mainz, Wahl zum Vizepräsidenten der Akademie für Völkerrecht in Den Haag, Ernennung zum Senatspräsidenten am Oberlandesgericht, Versetzung in den Ruhestand (auf eigenen Antrag), all das ergab eine schlüssige Linie ohne Ausrutscher und Schlenker, die lückenlose Lebenslinie ihres Schwiegervaters, den sie nicht besonders gut kannte, der ihr aber bedeutend vorkam, ja, ihr selbst und ihrem Mann fraglos haushoch überlegen. Sie hatte keine Fragen gestellt, und er hatte von sich aus wenig über sich gesprochen. Senatspräsident am Oberlandesgericht, das las sich einschüchternd. (Sie war ein schlichtes Gemüt.) Er war jemand, zu dem man aufblicken konnte, aufblicken mußte, die Lücken, die Fallstricke kannte sie nicht. Vielleicht hatte er durch die Schwiegertochter hindurch geschaut mit seinen wäßrigen Augen.