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George war im mittleren Alter einem Angebot gefolgt, zu einer Ingenieursfirma an den Rhein zu wechseln. Es war ein gutes Angebot, sein Arbeitgeber schätzte seine englischen Verbindungen und schrieb es nicht nur sich persönlich, sondern der deutschen Wirtschaft gut, daß der „halbe Engländer“, wie er ihn nannte, in seine Firma eingetreten war. (In Wirklichkeit war er ja mindestens ein Siebenachtel-Engländer, in Berlin geboren, aber nie mehr in Berlin gewesen, ein englisches Landei, das sich in einer Kleinstadt in Suffolk wohlfühlte und geheiratet und Kinder bekommen hatte. Alles hatte sich gerundet, nun ja, bis er es sich anders überlegte. Als unstet empfand er sich nicht, eher als wurzellos.) Daß sein Arbeitgeber an der Ausschreibung für ein internationales Projekt interessiert war und ihm der zweisprachige Ingenieur überaus nützlich war, begriff Kornitzer erst, als er die neue Stelle angetreten hatte.

Das Ingenieurswesen in England, da hätte der deutsche Unternehmer Kornitzer am liebsten auf die Schulter gehauen, sei ja doch nur halber Kram, ja, beim Eisenguß, bei Queen Victoria, da sei England führend gewesen. Die Tüftler säßen in Deutschland, so sei es immer gewesen. Er sprach so überzeugend, als dulde er keinen Widerspruch. (Dachte er an die V2? An die bedrohlichen Feuerschweife hinter den Raketen, die über Kent hinweggezischt waren? Vermutlich nicht, aber George dachte daran.) George Kornitzer hatte die Bombardierungen der deutschen Luftwaffe in England gesehen, er hatte mit seiner Pflegefamilie im Keller gesessen und gezittert. Er hatte, wenn der Angriff vorbei war, die Löscharbeiten der Feuerwehrmänner und die stoische Hilfe der Nachbarn der Geschädigten gesehen. In seiner Phantasie läßt er alle zerstörten Brücken in altem Glanz wiederauferstehen, das soll die Chance seines Lebens sein, und er sonnt sich in diesem Glanz. Am großen Tisch mit den Hales-Kindern und den Pflegeeltern schwärmt er von Brückengerüsten und Filigranpfeilern und staunt über alle, die beim Anblick der vielen zerstörten Brücken klagen.

Dann hatte er den Vertrag unterschrieben, für seine Frau war es ein Abenteuer, abroad zu leben, das hatte kaum jemand aus Ipswich gewagt. Sie hatten das Reihenhaus in Ipswich gegen ein Reihenhaus in einer deutschen Kleinstadt vertauscht, einen roten Ziegelbau mit Veranda gegen einen hellen Rauhputzbau mit Erker, einen saftigen Rasen gegen einen matten Rasen mit Löwenzahn, ein Mäuerchen gegen einen Jägerzaun. George Kornitzer tat dies mit Gleichmut. Ja, die Bezahlung war gut, die Arbeit keine Tüftelei, sondern Reißbrettarbeit.

Er war angekommen. Angekommen, aber wo? Das Ankommen war eine Erschütterung wie das Weggehen, so hatte er es von seinem Vater erfahren. Aber er wollte sich solche Gedanken nicht machen. Er wohnte jetzt an einem Hang über dem Rhein, etwa fünfzehn Kilometer von Mainz entfernt, er blickte auf Weinberge, kahle Hänge im Winter, aus denen die Stöcke ragten, grünes Laub im Sommer, er sah die Lastkähne, die die Loreley grüßten, er hörte die Hunde bellen und hin- und herrennen auf dem Deck der Schiffe, er hörte die Güterzüge auf der anderen Rheinseite poltern und die Laster, die den Wein von Großkellereien abholten und die Mineralwasserkästen von der Sprudelquelle, ein dauerndes Rappeln und Scheppern, Brausen und Beben im engen Tal, Bremsen und Anfahren an der Verkehrsampel. Er hörte auch auf die Glocken der katholischen Pfarrkirche und das Röhren der Rasenmäher am Samstagnachmittag, Leben hieß Krach machen und Krach ertragen. George war seit seiner Krankheit im Hostel for Displaced Children lärmempfindlich geblieben. (Oder sein Kummer, seine Verletzung hatte sich in dieser Empfindlichkeit verfestigt.) Alleinsein tat ihm gut. Er saß immer noch gern in einer kleinen Kammer oder ersatzweise in der Garage und schraubte und lötete, setzte Schaltpläne um, die nur er verstand. Hier war er Herr über Ruhe und Ordnung, hier war er Herr seiner selbst auf einem winzigen, ungefährdeten Terrain. Aber in Ipswich war es auch nicht leise gewesen, sagte er sich. Auf der Orwell Bridge, an deren Konstruktion er beteiligt war, hatte sich der Verkehr gestaut. In Deutschland mußte Kornitzer für bridge gleich Brücke zusätzlich das Wort Überwerfungsbauwerk lernen, das war der fachgerechte Terminus für eine alte Sache. Hängebrücken, Bogenbrücken, Balkenbrücken und Umwölbungen der Öffnungen, damit beschäftigte er sich im Team. Und mit den Sachzwängen der Restaurierung älterer Brücken, der Unterspülung von Pfeilerfundamenten, den Hoch- und Tiefkailinien, der Höhenlage der Hoch- und Tiefkais, der Brückenachsen, der Stellung der Pfeiler zur Stromrichtung und der lichten Höhe der Brückengewölbe in den beiden Schiffahrtsöffnungen stromaufwärts und stromabwärts. Nein, mythisch empfand er den Strom nicht, an dem er nun lebte, an dem er Brücken plante und restaurierte. Er wußte nicht genau, was mythisch war, möglicherweise in England etwas ganz anderes als in Deutschland, also ließ er die Finger von solchen Dingen (Dingen, die keine Dringlichkeit hatten, Dingen, die in Begriffe überlappten.)

Und wenn man so dreißig oder mehr Jahre in England lebt, hatte er seiner Frau gesagt, als er sich entschloß, nach Deutschland zurückzukehren, und wenn man immer noch als Foreigner gilt, ist das deprimierend. Man bildet sich in seinem Leben ein, viele Sachen zu sein, Kind und Vater, Engländer oder kein Engländer. Und Jude war er auch nicht wirklich. Deutscher bin ich schon lange nicht mehr, er klagte ja nicht darüber, er empfand sich als eine krude Mischung, und manchmal hatte er den Verdacht, gerade dies gefiele seiner Frau, die Unzugehörigkeit, die ihn um so stärker an die Ehe band, er hatte ja sonst wenig Bindungen. Er hatte festgestellt, daß er ein Flüchtlingskind war und blieb, das war seine Identität, er hatte sie mitgenommen an den Rhein mit seinem englischen Paß und all seinen Unsicherheiten, und er würde sie mitnehmen, wohin er ging. Also war es leicht gewesen, nach Deutschland aufzubrechen, man mußte den Schmerz nicht spüren.

Schreib an das Handbuch, mahnte ihn seine Frau. Es machte sie stolz, daß ihr Schwiegervater zu der Ehre kam, daß ihm ein Lexikonartikel gewidmet wurde, und sie strahlte es aus, nicht nur insgeheim. Im Nu konnte sie sich als Hinterbliebene eines bedeutenden Mannes imaginieren, sie fühlte sich ihm jetzt näher als zu Lebzeiten. (Sein Unglück hatte sie mit jungen Augen übersehen.) Ihr Vater war Uhrmacher gewesen, bis sich das ganze Ticken, das sie nervös machte, nicht mehr lohnte und die übriggebliebenen Uhrarmbänder unter Wert verscherbelt wurden, weil sie schon etwas verblichen waren und neue im Kaufhaus massenweise auf einem Drehkarussell angeboten wurden, während ihr Vater noch Schublädchen für Schublädchen aufzog und seine vermeintlichen Schätze, Kalbsleder, Schlangenleder, Straußenleder darbot. Und die Sächelchen alterten ja nicht, felsenfest war er dieser irrigen Meinung. Aber er alterte, die Ladenmiete stieg, und so mußte alles eines Tages verramscht werden, und Ipswich hatte keinen Uhrenladen mehr, aber Schmuckgeschäfte in den Geschäftsstraßen, in denen angestellte Uhrmacher Verkäufer geworden waren und sich gelangweilt an die blitzblanke Theke lehnten, sie verkauften nur dem Augenschein nach Uhren, in Wirklichkeit machten sie Umsatz. Und George Kornitzers Frau war damit auch eine Stabilität entzogen worden, so mußte man es sehen.