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Die Tochter eines Uhrmachers, die Frau eines Ingenieurs begriff: Alle Vornehmheit war früher, hatte mit dem Juristen aus Breslau, Berlin und Mainz zu tun, und George und sie waren nur Randfiguren und würden solche bleiben. Das war einerseits erleichternd, aber es bot auch viel Raum für alle möglichen Projektionen. Zum Beispieclass="underline" War George Kornitzer, ihr Mann, weniger klug als ihr Schwiegervater, Richard Kornitzer? Und war Selma, ihre englische Schwägerin, auch ihrer Schwiegermutter Claire, der Kinowerberin, der Berlinerin, die Besetzungszettel herauf- und herunterbeten konnte, nicht gewachsen? War die Familie, in die sie hineingeheiratet hatte, durch den Faschismus, durch die Verfolgung, den Kindertransport einfach abgesunken? Eine absteigende Linie, die sich von dem Schock der Erniedrigung einfach nicht mehr aufrappelte? Oder war sie, die Eingeheiratete, aufgestiegen in eine vage, schmerzgestillte Vernünftigkeit, eine multiple Anpassungsfähigkeit, in der sie auch stillhielt, den Atem anhielt, stillstehen mußte? Sie hatte gute, das heißt mehrheitsfähige angelsächsische Ansichten: Deutsches war mißliebig, Jüdisches war exotisch, beides war complicated, entsprach also nicht der gelassenen englischen Art. Und in der Doppelung war es rätselhaft. Es war eine soziale Leerstelle, in einer Großstadt vielleicht ließe sie sich füllen, aber hier in der Siedlung über dem Rhein nicht. Vermutlich wäre der bastelnde, tüftelnde, schraubende George gerne eine Art von akademisch ausgebildetem Uhrmacher geworden, einer, der übermäßig kleine Welten schuf und überschaute.

Und George Kornitzer setzte sich hin, dankte für den Brief der Handbuch-Redaktion und schrieb, er sehe sich leider nicht in der Lage, die biographischen Angaben zu bestätigen. Viele seien falsch, und es brauche viel Zeit, sie zu berichtigen. Er sähe sich dazu besser in der Lage, wenn die Redaktion des „Biographischen Handbuches“ ihm ihrerseits in einer für ihn höchst wichtigen Sache beistehen und ihn unterstützen würde. Sein Vater, der 1970 gestorben war — diese Angabe bestätigte er beiläufig —, sei in seinen letzten Lebensjahren durch viele Enttäuschungen schwer verängstigt gewesen. Er habe einen Testamentsvollstrecker eingesetzt, und dieser habe nun mehr als vier Jahre verstreichen lassen, um den Nachlaß zu regeln, obwohl er, seine Schwester in England sowie die ebenfalls erbberechtigte Frau Amanda Pimienta (eine Verwandtschaftsbezeichnung zu nennen, vermied er) sich in allen Fragen des Testaments und der Aufteilung des Erbes einig seien. Er bat die Redaktion des Handbuches, diesen Skandal aufzugreifen und der schreienden Ungerechtigkeit, die letzte, die sein Vater erdulden müsse, ein Ende zu bereiten. Und er verblieb mit verbindlichen Grüßen — George Kornitzer.

Als seine Frau den Durchschlag dieses Briefes auf dem Tisch liegen sah, erstarrte sie, und ihr nettes, in der deutschen Kleinstadt-Volkshochschule gelerntes Deutsch blieb stecken. Why?, fragte sie, kugelrunde Augen, die sich leicht verschleierten, und ein Mund, der offen stand. George hatte seinem Vater die letzte Ehre verweigert, aus Unkenntnis, aus nachgetragenem Zorn, aus falscher Einschätzung eines Nachschlagewerkes. Sie begriff ihren Mann nicht. Manchmal hatte sie Angst um ihn (Angst vor ihm?), als könne er sich weder in der einen noch in der anderen Sprache verständlich machen. Als fehle ihm eine Herzenssprache. Er war es so gewohnt, gebraucht zu werden von Selma und später von ihr und den Kindern, der Ingenieursfirma, daß er nicht begriff, daß nun, vier Jahre nach seinem Tod, sein Vater ihn einmal brauchte. Oder nicht sein Vater, die Erinnerung, die Geschichte. Er verstand nicht, daß er Zeuge war, Zeuge für das Leiden und den Hochmut seines Vaters.

Die Mitarbeiterin des Handbuches las George Kornitzers Schreiben, seufzend, kopfschüttelnd, und sprach darüber in der Konferenz. Was hatte die Nachlaßregelung des Juristen mit seinem Nachleben im Lexikon zu tun? Warum hatte er, wenn er gesetzliche Erben hatte, einen Testamentsvollstrecker eingesetzt? Und warum einen vermutlich sehr untüchtigen, nachlässigen oder einen, der seinen Erben nicht wohlgesonnen war? Oder gab es doch Streitigkeiten, die der Sohn verschwieg? Und wer war Frau Amanda Pimienta? Und was ging sie das alles an? War die Weigerung zur Mitarbeit eine unbewußte Rache des Sohnes an seinem Vater? Darüber zu spekulieren stand ihr nicht zu.

Sie hatte zwei Dutzend Entwürfe für biographische Eintragungen auf dem Tisch, alles mußte abgesichert werden, für jede Biographie hatte sie eine begrenzte Zeit reserviert, ja, man mußte taktvoll sein, aber auch effizient. Es gab unendlich viel nachzuprüfen und zu tun, eine entsagungsvolle Arbeit. Und es galt die Regel, daß Daten und Fakten, die von Angehörigen nicht bestätigt worden waren, auch nicht in die Endredaktion gelangten. Und es gab einen Redaktionschluß, es gab Briefwechsel mit Angehörigen, besonders mit Witwen, die sich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hätten hinziehen können. Wiederholtes Seufzen. Sie legte den Schriftwechsel zu den Akten, dort war er auffindbar für jemanden, der ihn später auffinden wollte. Im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration kommt Richard Kornitzer nicht vor.

Nachweise

Mit Dank an María Cecilia Barbetta, Sabine Bender (Landesarchiv Rheinland-Pfalz), Maritza Corrales Capestany, Dr. Gerhard Keiper (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes), Katrin Kokot (Exilabteilung der Deutschen Nationalbibliothek), Dr. Martin Luchterhandt (Landesarchiv Berlin), Loren Marsh, Petra Plättner (Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz), Manfred Simonis (Stadtarchiv Mainz), Heiner Stauder (Stadtarchiv Lindau), Brigitte Tilmann (Oberlandesgerichtspräsidentin a. D.), Ingo Wilhelm.

Selmas Erzählung über den Kindertransport folgt weitgehend Ruth Barnett: Person of No Nationality. A Story of Childhood Separation, Loss and Recovery. London 2010, sowie: Ich kam allein. Die Rettung von zehntausend jüdischen Kindern nach England 1938/39. Hrsg. von Rebekka Göpfert (nach Bertha Leverton und Shmuel Lowensohn: The Story of the Kindertransports.), München 1994.