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Kornitzer, der geborene Breslauer, der seit seinem sechzehnten Lebensjahr in Berlin gelebt hatte, der Berlin nur ungern verlassen hatte, verjagt, vertrieben, der sich ein bißchen an die karibische Trägheit in Havanna, das Schaukeln, das Gurren, die Gewißheit, daß morgen auch noch ein Tag war und danach noch einer, gewöhnen mußte, hatte das Leben über dem See liebgewonnen. Es war etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte und das er zu seiner eigenen Verblüffung meisterte. Insgeheim hatte er sich in den Monaten seit dem Frühjahr ein „wirkliches“ Richterleben am Bodensee ausgemalt, er hatte das Amtsgericht schon in Augenschein genommen — ein Landgericht war nicht vorhanden —, die knarzende Treppe, die buckligen Bänke auf den Fluren. Aber der Brief, das lang erwartete Angebot, war überwältigend. Er konnte sich eine Domstadt am Fluß, eine Stadt, die zerstört worden war, nicht wirklich vorstellen (mangelte es ihm an Phantasie?). Aber er wollte in seinen Beruf zurück, er wollte wirkliche Gesetze, nicht Vorgaben der Besatzungsmacht, die sich ändern konnten je nach der politischen Opportunität. Er wollte Recht sprechen in der neu gegründeten Bundesrepublik, nicht ein Rechtswesen verwalten, er wollte selbst gestalten. Ja, er wollte endlich Richter sein, das wollte er unbedingt. Richter sein, das hieß auch, frei in seinen Entscheidungen zu sein, eine anerkannte, unumstößliche Autorität. Und so schrieb er zurück, in gemessenem Ton dankend. Für sein eigenes Empfinden waren seine Bewerbung und alle Unterlagen in den Duft der Äpfel gebettet.

Er sprach mit dem Mann vom Arbeitsamt, der ihn betreute, über das Angebot. Dieser gratulierte ihm und sagte: Endlich, wie schön für Sie! Kornitzers Unschlüssigkeit blieb, seine leise Hoffnung, ob nicht doch ein Gericht am Bodensee ihn beriefe, verflog. Er sprach mit Claire über die Wiederbegründung eines eigenen Hausstandes, über die Heimholung der Kinder, er sprach und sprach und ereiferte sich freudig. Und Claire freute sich auch, wie gerne hätte sie die Stellung in der Molkerei aufgegeben, neu angefangen unter besseren Bedingungen, und nächtlich schmiedeten sie Pläne.

Kurz nach dem offiziellen Brief kam ein zweiter Brief aus Mainz, Kornitzer dämmerte bei dem Namen des Absenders Erich Damm, daß es sich um einen ehemaligen Assessor am Landgericht Berlin handeln mußte, an dessen Gesicht er sich kaum erinnern konnte, eher an eine gewisse Schneidigkeit, einen asketischen Eifer, der noch keine Richtung hatte (glaubte Kornitzer) und dessen Folgen ihm wegen seiner Entlassung aus dem Dienst verborgen geblieben waren. Damm war Rechtsanwalt in Wiesbaden geworden, nach einigen Umwegen, wie er schrieb. Aber warum schrieb er denn? Er hatte in Erfahrung gebracht, daß Kornitzer eine Stelle am Landgericht Mainz antreten könne und vielleicht auch antreten wolle, und schrieb weiter: Ich glaube, daß wir gut zusammenarbeiten könnten, da wir von einer traditionellen Plattform ausgehen. Das ist das eine. Das andere ist nicht so einfach. Ja, warum schrieb der Mann ihm? War die gemeinsame Plattform ein Rechtsverständnis des Jahres 1929 mit all den Zensurmaßnahmen, die auf energische politische Differenzen hindeuteten? Oder mißverstand er das Jahr 1933 gründlich als eine „noch“ gemeinsame Plattform, an die sich Kornitzer nicht klammern durfte, ohne zu zerschellen. Oder hatte Damm geglaubt, gut mit Kornitzer zusammengearbeitet zu haben, als (oder weil?) dieser aus dem Berufsbeamtentum entlassen wurde? Hatte jemand ihn gefragt: Was wird denn aus Ihnen? Oder nur: Was immer aus Ihnen wird — viel Glück. Es hatte kein Mitleid gegeben, nicht einen Funken von Mitgefühl, allerdings gehässige Neugier oder ein kaltes, distanziertes Schweigen. An mehr konnte sich Kornitzer nicht erinnern. An mehr wollte er sich nicht erinnern. Und das andere, das Damm beschrieb, ja, wovor er wirklich warnte, waren die schlechten Lebensbedingungen in Mainz, nicht zu vergleichen mit dem goldenen Füllhorn in der gesegneten Bodensee-Landschaft. Mit keinem Wort fragte er, wie es Kornitzer zwischendurch gegangen war, wie er überlebt hatte, es war ein demonstratives Desinteresse, als hätte Kornitzer zehn Jahre in einer requirierten Villa verbracht — mit freiem Zugang in die gesegnete Schweiz: Ich halte es für meine Pflicht, Sie auf einige zwangsläufige Verhältnisse aufmerksam zu machen, damit Sie nicht etwa später enttäuscht sind. Damm schrieb über Steuern, über Preise und vor allem über die Wohnsituation. Die Wohnungsverhältnisse sind in Mainz, das bis zu 95 Prozent zerstört ist, besonders prekär. Ebenso die Heizung. Sie können von Glück sagen, wenn Sie im Winter wenigstens ein Zimmer einigermaßen warm halten können. Normal ist das nicht möglich, die Zuteilung reicht gerade fürs Kochen aus. Rauchwaren gibt es ungefähr ein Dutzend Zigarren im Monat oder eine entsprechende Zigarettenmenge. Aber sonst leben wir Älteren sehr schön von der Erinnerung (Welche Erinnerung, zum Teufel? fragte sich Kornitzer beim Lesen), nur schade, daß man daran weder satt noch warm wird. Es sei denn, daß man ein hitziges Gemüt hat, was ich bei Ihnen nicht voraussetze. Trotzdem dürfen Sie sich durch diese nackten Tatsachen nicht abschrecken lassen. Man wurstelt sich so durch und wundert sich jeden Tag von neuem, daß es doch immer wieder irgendwie geht. Geduld ist der große Schutzengel, der uns alle umgibt.

Also seien Sie so freundlich und geben Sie mir recht bald Bescheid, ob Sie nach Mainz kommen werden. Ich brauche Ihnen nicht erst zu versichern, daß ich alles für Sie tun werde, daß Sie hier nicht ein Troglodyten-Dasein zu führen haben. Und dann wurde Kornitzer mit freundlichen Grüßen in seine Verwunderung entlassen. An einen Schutzengel konnte er sich nicht erinnern, beim besten Willen nicht, eher an ein chronisch gewordenes Ungeschütztsein, er hatte sich durchgeschlagen. Am liebsten hätte er den Brief unbeantwortet gelassen, der angeschlagene Ton, die Mischung aus plumper Vertraulichkeit und Abwehr des Neuen war ihm zuwider. Er übersetzte sich Damms Brief in ein „Kommen Sie bloß nicht, aber wenn Sie kommen, kommen Sie in meinen Einflußbereich, dort sind Sie am unschädlichsten“. Er rang sich dann durch, Damm ein paar formelle Zeilen zu schreiben, er habe noch keine Entscheidung gefällt, er wolle Erkundigungen einholen. Ausführlich schrieb er an den Landgerichtspräsidenten über seine Besorgnis, nach seinem langen Aufenthalt in der Emigration unter schlechtesten Wohnbedingungen, aufgenommen im Dachstübchen seiner Frau, in einer so zerstörten Stadt (die Prozentzahl, die Damm ihm genannt hatte, erwähnte er nicht) seine Arbeit aufzunehmen. Und er bat um Hilfe bei der Beschaffung einer Wohnung. Die Antwort aus dem Landgericht war liebenswürdig im Ton, aber hart in der Sache. Die Innenstadt von Mainz sei zu 75 Prozent zerstört, Wohnraum sei knapp, und das Landgericht könne bei der Beschaffung nicht behilflich sein. Kornitzer möge vorerst im Hotel wohnen, in dem auch andere neu an das Landgericht berufene Richter wohnten. Kornitzer verglich im Kopf die Prozentzahl der Zerstörung, die Erich Damm ihm genannt hatte, mit der vertrauenswürdigeren Prozentzahl, die aus dem Landgericht kam, und fragte sich: Was hatte Damm dazu getrieben, ihm eine so abstoßend hohe Zahl zu nennen? Es kam ihm vor wie eine Suggestion: Sie werden hier Ihres Lebens nicht froh. Sie werden eine Trümmerexistenz führen. Er zeigte den Brief Claire und mußte gar nicht viele Worte machen. Er sah die Enttäuschung in ihrem Gesicht überdeutlich. Also vorerst kein gemeinsamer Haushalt, Zerstreutheit, Wechsel, noch ein Provisorium, wieder ein Provisorium.