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Funk, das raunte man Kornitzer später auch zu, war kein NSDAP-Mitglied gewesen, er war Mitglied im Luftschutzbund geworden, aber da war er schon so geschädigt, daß er weder dem Luftschutz noch sich selbst wirklich nützlich sein konnte. Amtsgerichtsrat Dr. Funk, so hieß es, konnte seit dem 5. April 1944 nicht mehr zum Amtsgericht kommen, weil ihm beide Schläuche seines Selbstfahrers, die er schon vorher hatte wiederholt flicken lassen müssen, bei einem Bombenangriff geplatzt waren. Deshalb wurden ihm vom Amtsgericht Oppenheim, wo er tätig war, seine Akten in die Wohnung geschickt. Für persönliche Rücksprachen, so hieß es, stand er aber leider dem Publikum seit dem 5. April 1944 nicht mehr zur Verfügung. (Gab es überhaupt noch ein Publikum, das den Richter sprechen wollte und in welcher Angelegenheit?) Seit Freitag, dem 21. April 1944 lag er im Bett, er litt nicht nur am Wundsein durch die dauernde, gleichmäßig sitzende Haltung im Selbstfahrer, er litt an Zukunftsangst wie die meisten Deutschen, er hatte auch Beschwerden mit seinen Gallensteinen. Die Amerikaner werden kommen, müssen landen, bald, das ist vorauszusehen, der Richter ist gelähmt, sein Kopf schmerzt, das Wägelchen funktioniert nicht mehr, all das erfuhr Kornitzer nach und nach.

Funk hatte sich wegen Ersatzschläuchen sofort an die zuständige Versorgungsstelle in Offenbach und, weil er auch dort mit Bombenschäden rechnete, gleichzeitig an das Wirtschaftsamt Worms gewandt. Von diesem ist ihm wohlwollendste und trotz des Vorliegens von etwa 400 Anträgen bevorzugte Berücksichtigung zugesagt worden. Erhalten hat er aber die bewilligten Schläuche nicht. Sein Vorgesetzter, der Amtsgerichtsdirektor, wandte sich zur Unterstützung ebenfalls an das Wirtschaftsamt. Er schrieb: Eine ordnungsgemäße Rechtspflege erfordere, daß Dr. Funk möglichst bald wieder in den Besitz eines fahrbereiten Fahrstuhls komme, damit er seinen Dienst wieder erfüllen könne. Er bat darum, so schnell wie möglich neue Schläuche zu bewilligen, da dies seines Erachtens wirklich kriegswichtig sei, und außerdem sei es doch anerkennenswert, wenn ein so schwer Kriegsbeschädigter wie Dr. Funk, der infolge seines Kriegsleidens auch sonst noch körperlich krank sei, Dienst tue und damit den Einsatz eines Wehrfähigen an der Front ermögliche. Am 4. Mai 1944 meldete der Amtsgerichtsdirektor in Worms dem Landgerichtsdirektor in Mainz, Amtsgerichtsrat Dr. Funk habe gestern neue Schläuche für seinen Fahrstuhl bekommen und seinen Dienst wieder aufgenommen.

Der Verlust der Schläuche in den Reifen seines Selbstfahrers war nicht das einzige Unglück, das Dr. Funk in der letzten Kriegsphase traf. Im Dezember 1944 wurde er bei der Heimfahrt vom Dienst in der Dunkelheit vom dritten Anhänger eines Bulldog-Lastzuges angefahren und umgeworfen. Außer einem benommenen Kopf hatte er keinen körperlichen Schaden erlitten. Allerdings war sein Selbstfahrer wieder kaputt, die Speichen eines Rades waren gebrochen, und es gab keine Aussicht, wie und wann das Gefährt repariert werden konnte. Dr. Funk ließ sich wieder die Akten nach Hause bringen. (Fällte er Urteile? Welche? Was waren das für Taten, die er im Dezember 1944 aufklärte, über die er zu Gericht saß?)

Im März 1945 schrieb Dr. Funk, als die Einnahme der linksrheinischen Städte durch die Amerikaner jeden Tag bevorstand, an den Landgerichtspräsidenten in Mainz, daß ihm der Aufsichtsführende Richter mitgeteilt habe, ihm sollten im Amtsgerichtsgebäude in Michelstadt im Odenwald zwei, drei Zimmer zur Verfügung gestellt werden. Für diese Fürsorge seiner Person gegenüber sagte er besten Dank. Er war nicht der einzige Beamte, der einen solchen Umzug schleunigst bewerkstelligen sollte. Alle Verwaltungsstellen im Bezirk erhielten die Anweisung, wichtiges Material auf die rechte Rheinseite zu transportieren. Als hielte der Fluß die Alliierten auf. Als wäre es nicht vorstellbar, daß nach Mainz in kürzester Zeit auch Darmstadt und Frankfurt und … und eingenommen würden. Ich habe mich entschlossen, schrieb Dr. Funk weiter an den Vorgesetzten, von diesem Angebot Gebrauch zu machen, und bitte darum, mir eine Bescheinigung auszustellen, daß meine Übersiedlung nach Michelstadt mit Einverständnis meiner vorgesetzten Behörde erfolgt. Damit ich auf Grund dieser Bescheinigung bei der Fahrbereitschaft Worms die Genehmigung zum Abtransport wenigstens des allernotwendigsten Mobiliars (Betten, Tisch, Stühle) und meines noch vorhandenen Kartoffelvorrates beantragen kann. So ein Mann war Dr. Funk, er tat bis zuletzt seine Pflicht, und dann war er wieder da, als neue Pflichten zu vergeben waren. Daß sie geringer waren als die früheren, daß seine Arbeit weniger verantwortungsvoll war, darüber sah er hinweg. Er sah auf seine gelähmten Beine unter der Decke, sah seine Schädigung und sah sie gleichzeitig nicht.

Ein anderer Richter, Landgerichtsrat Beck, war gut zehn Jahre jünger als Kornitzer. Er hatte ein überaus glattrasiertes Gesicht mit einem dunklen Bartschatten und in den Lidern ein nervöses Zwinkern. Mit diesem Zwinkern starrte er Kornitzer an wie ein Wesen von einem anderen Stern (und das war er ja auch in gewisser Weise). Der Landesgerichtspräsident hatte 1942 Becks Beurteilung geschrieben: Er ist politisch zuverlässig, Mitglied der NSDAP, der HJ, des NS-Richterbundes und hat schon frühzeitig aktiv in der Bewegung mitgearbeitet. 1935 wurde er in Salzburg wegen Betätigung für die NSDAP zu sechs Wochen Arrest verurteilt und aus Österreich ausgewiesen. Gehörte das in eine dienstliche Beurteilung? Eher nicht oder eben gerade, es kam dem Vorgesetzten nicht so sehr auf die fachliche Beurteilung, sondern auf die langjährige und großräumig ausgerichtete Wühlarbeit im Sinne der Partei an. Der Arrest adelte ihn als einen Kämpfer der frühen Bewegung. Beim Entnazifizierungsverfahren wurde Beck dann 1947 um vier Jahre zurückversetzt und als Hilfsrichter in Frankenthal eingesetzt. Das Urteil war aber in Wirklichkeit bedeutungslos, da Säuberungsentscheidungen — mit Ausnahme der Amnestie- und nicht Nichtbetroffenenbescheide — zu ihrer Wirksamkeit der Veröffentlichung bedürfen, so stand es in seiner Personalakte. Darüber konnte man fassungslos sein. Hatte Beck nur Glück gehabt, daß jemand, der ihm wohlgesonnen war, im Amtsblatt die Veröffentlichung einfach „vergessen“ hatte? Oder war dahinter eine Strategie: Was nicht veröffentlicht wird, ist nicht wirksam, und dieser Unwirksamkeit kann man überaus wirksam nachhelfen. Quod non est in actis, non est in mundo, sagen die klassisch gebildeten Juristen. Was nicht in den Akten steht, das gibt’s auch nicht. Und da stand Beck wie eine deutsche Eiche im Besprechungszimmer des Landgerichtspräsidenten, ohne Abweichung ins Grandiose oder in eine zarte Unauffälligkeit. Ihn gab’s zweifellos, Landgerichtsrat Beck, zurückgesetzt und nicht zurückgesetzt, er zwinkerte und zwinkerte und sagte gar nichts, und das genügte fürs Erste.

Der älteste unter den Kollegen war Dr. Walter Buch, ein vierschrötiger Mann mit vielen geplatzten Äderchen auf den Wangen und der Nase. Er war schweigsam, wachsam, schien sich zu orientieren, lauschte in die Runde hinein, als wolle er nur reagieren, und das war vielleicht auch gar nicht falsch aus seiner Sicht. Er war über fünfzig, 1929 zum ersten Mal planmäßig als Amtsgerichtsrat angestellt worden und am 1. 11. 1933 SA-Sturmmann geworden. (Mußte er das, wollte er das als ein 35jähriger Jurist, wollte er wirklich herummarschieren, Wehrsport treiben, die Straße frei, die Reihen fest geschlossen, erinnerte er sich nicht mehr, 13 Jahre später?) Ja, man mußte die Formulare persönlich ausfüllen, Belege zur Mitgliedschaft in den Gliedorganisationen der NSDAP waren nicht erforderlich bei den Entnazifizierungsverfahren, denn es wurde vorausgesetzt, daß die Mitglieder die Zeugnisse ihrer Mitgliedschaft längst vernichtet hatten. Im Zweifelsfall waren die Belege immer einem Terrorangriff zum Opfer gefallen. Und so waren die zu Entnazifizierenden selbst Opfer geworden, jedenfalls fühlten sie sich so, Opfer ihrer Biographie, ihres Karrieregeistes, alles ging weiter, eine Rolltreppe ohne Ende oder eine, deren Ende nicht abzusehen war, wenn man sich taub und blind stellte. Dr. Buch war 1934 vom Amtsgericht zum Landgericht gewechselt und aufgestiegen. In seiner damaligen Beurteilung stand: Fähigkeiten, Begabungen und Leistungen von Landgerichtsrat Buch liegen erheblich über dem Durchschnitt. Er verfügt über recht gute Rechtskenntnisse auf allen Gebieten, die er insbesondere als Gemeinschaftsleiter anzuwenden in der Lage ist. Er hat in Straf- und in Zivilsachen den Vorsitz geführt und dabei sich den an ihn gestellten Anforderungen durchaus als gewachsen gezeigt. Die von ihm als Beisitzer in meiner Zivilkammer gefertigten Urteile sind gut ausgebaut, präzise, ohne unnötiges Beiwerk. Er hat ein durchaus selbständiges Urteil und hat seine Eignung auch bei Bearbeitung einzelner Präsidialgeschäfte, die ich ihm zugeteilt habe, bewiesen. Welche Geschäfte das waren, mußte man mutmaßen, es stand auch nicht in Buchs verschlossenem Gesicht geschrieben. Es müssen „durchaus“ prekäre Geschäfte gewesen sein, wenn sie nicht weiter aufgeführt worden sind. Eine weitere Beurteilung aus dem Jahr 1936 lag vor: Sein Charakter und seine Führung sind tadellos. Seine politische Zuverlässigkeit unzweifelhaft. 1937 war er im SA-Reservesturm 21/117 in Mainz. Die SA-Reserve stand den frühen Mitgliedern offen, den älteren mit der Erfahrung in der Kampfzeit. Aus der SA wurde er in die NSDAP übernommen. Unzweifelhaft war auch die weitere Karriere, die er gleichzeitig machte. 1939 wurde er zum Oberlandesgerichtsrat in Darmstadt ernannt, von 1940–1945 war er am Divisionsgericht Koblenz als Kriegsgerichtsrat tätig. Er urteilte über Fahnenflüchtige und „Truppenschädlinge“, wie sie genannt wurden. Buch hatte die Fragebögen nach seinem Vorleben beim Gouvernement Militaire en Allemagne ordnungsgemäß beantwortet und war nach mehreren Zwischenstationen durch Spruch der Zentralen Säuberungskommission beim Regierungspräsidenten Hessen-Pfalz am 19. 11. 1946 eingestuft worden: Vorläufige Belassung, jedoch nicht als Spruchrichter mit Gehalt von 1937.