Als Kornitzer am Bodensee in der Säuberungskommission arbeitete, war ihm kein einziger Fall eines Juristen zu Ohren gekommen, er hatte nach den Angestellten und Arbeitern im Schlachthof die Fragebögen von Handwerkern zu bewerten, von Klavierlehrerinnen, von kleinen Unternehmern. Und er hätte nicht gewußt, wie er reagiert hätte, über dem ellenlangen Fragebogen eines ehemaligen Richterkollegen brütend, der älter war als er, und vor allem konnte er sich auch nicht vorstellen, wie die anderen Mitglieder der Spruchkommission reagiert hätten, wenn sie über einen Richter, einen Kriegsgerichtsrat, zu richten hätten. Im Juli 1946 war Buch mit der Neuordnung und Neuaufstellung der durch die Fliegerangriffe beschädigten Landgerichtsbibliothek beschäftigt gewesen. Das war eine Einschränkung, zumal auch das Erbe weggefallen war, es war eine Einschränkung, die mit den Einschränkungen anderer, Kriegsheimkehrern, Flüchtlingen, Remigranten, in Beziehung zu setzen war. Immerhin hatte Buch ein festes Gehalt, er hatte eine Stelle, er durfte in seinem Bereich arbeiten, was also sollte er klagen?
Nur einmal hat er Angst, große Angst. Er war nicht im Krieg gewesen, man hatte ihn an höherer Stelle gebraucht, er hatte über Fahnenflüchtige geurteilt, nicht weit weg, in Koblenz. Er war aber im ersten Weltkrieg gewesen, er hatte den Winter 1915 in Rußland als junger Mensch kennengelernt, er hatte danach den Balkan-Feldzug 1916–1918 mitgemacht und war noch in den letzten Kriegswochen in Frankreich eingesetzt gewesen. Hatte er damals Angst gehabt? Es war so lange her, die Todesangst des jungen Soldaten hatte nichts mit der Existenzangst des ehemaligen Kriegsgerichtsrats zu tun, für den Kriegsgerichtsrat war es schlecht, daß der Krieg zu Ende war. Buchs Einkommensquellen wurden auch in seiner Akte genannt. 1931–1946 hat er ein planmäßiges Diensteinkommen, aus dem elterlichen Erbteil zusätzlich jährlich circa 1.500 RM, die nach dem Krieg nicht mehr flossen, weil das elterliche Haus, aus dessen Mieten das Einkommen erzielt wurde, zerstört war. Aber die Angst des Kriegsgerichtsrats, dessen Arbeit mit der bedingungslosen Kapitulation seines Arbeitgebers gegenstandslos geworden war, hatte eine tiefere Bedeutung und hatte eine Spur hinterlassen, die auffindbar war. Am 9. 9. 1946 schrieb Buch einen langen Brief an den Regierungspräsidenten von Hessen-Pfalz.
Betr. Entnazifizierung
Im Nachzug zu meiner Eingabe vom 21. Juli 1946 bitte ich, noch folgendes mitteilen zu können. In meinem Fragebogen habe ich angegeben: SA von 1934 bis 1935. Hierzu muß ich richtigstellen, daß ich der SA-Reserve angehört habe. Nachdem im Nürnberger Prozeß SA und SA-Reserve verschieden beurteilt wurden, muß ich dies ausführen. 2 Bescheinigungen füge ich bei. Im übrigen erkläre ich ausdrücklich, daß ich von 1934 bis 1938 keinen Fall miterlebt oder gehört habe, in dem die SA ein Unrecht begangen hätte, sonst wäre ich nicht dabei geblieben. Bei der Judenverfolgung im November 1938 sollte in Mainz die SA hinterher hineingezogen werden. Ich war damals aber schon ausgetreten. Ich habe mich in meinem Amt als Richter niemals beeinflussen lassen. Bei der Partei hatte ich, wegen der Vorbehalte, die man mir ja am Gesicht ansah, keine Nummer. Dafür soll ich nun heute, wo es wieder eine freie Entwicklung und freie Arbeit gibt, aus dem Dienst gejagt werden, nach 25 Dienstjahren!
Er muß etwas läuten gehört haben, ein dröhnendes Glockengeläute, und sei es, daß es aus Nürnberg hinübergeschallt ist. Ja, Dr. Walter Buch hat wirklich Angst: Entlassung ohne Pension bedeutet, so glaubt er es dem Regierungspräsidenten darlegen zu müssen, nicht nur Verlust der Stellung, sondern auch die Unmöglichkeit, in einem Anwaltsbüro oder sonstwo im Fach zu arbeiten, wo ich noch etwas leisten kann, außerdem Beschlagnahme des restlichen Eigentums, nachdem das meiste schon durch den Krieg und die Bombenangriffe zerstört ist.
Ich bitte die Zentralsäuberungskommission, diese Folgen zu bedenken und eine gerechte Entscheidung zu fällen.
Hochachtungsvoll
Dr. Walter Buch
Ja, er hat große Angst, Muffensausen, und er macht sich vor dem Regierungspräsidenten ziemlich nackt mit seiner Angst, plötzlich vor dem Nichts zu stehen. Aber seine Angst erweist sich als unbegründet. 1947 wird er wieder zum Staatsdienst vereidigt. Schon im Oktober 1946 waren die Weichen für ihn anders gestellt worden. Eine Verwendung beim Landgericht, bei der er nicht als Spruchrichter tätig ist, ist nicht möglich, schreibt der Direktor des Landgerichts, denn jeder Kammerbeisitzer ist m. E. als Spruchrichter anzusehen. Oder hat die Einschränkung nur den Sinn „nicht als Einzelrichter“? Und sein zukünftiger Vorgesetzter paukt ihn weiter heraus, indem er die scharfsichtige Bemerkung hinzufügte, er gehe davon aus, daß die ohne Einschränkung erlassene Berufung des Herrn Dr. Buch als Landgerichtsrat die uneingeschränkte Verwendung erlaubt.