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Am 21. 5. 1948 wird Buchs Amnestiebescheinigung unterzeichnet, er gehört jetzt der Gehaltsgruppe A2 C2 an. Am 1. 6. 1948 reklamiert er, in seinen Bezügen sei nicht berücksichtigt worden, daß er inzwischen geheiratet habe. Am 1. 7. 1949 erreicht er die Gehaltsgruppe A2 b. Die Angst, die er ein gutes Jahr lang gehabt hatte, war unbegründet.

Am Nachmittag wurde Kornitzer vom Präsidenten vereidigt, es war eine Zeremonie, die ihn bewegte, und das Glas Riesling, das er danach von einer Justizangestellten gereicht bekommen hatte, schmeckte ihm. Es schwirrte ihm noch der Kopf von den Namen all der Kollegen, die er sich merken mußte. Aber er war guten Willens.

Landgericht Mainz

Gegenwärtig:

Landgerichtspräsident Dr. Krug

Mainz, den 31. August 1949

Zur Vornahme seiner Beeidigung erscheint der Landgerichtsrat Dr. Richard Kornitzer, geb. in Breslau am 4. Juli 1903, wohnhaft in Mainz.

Er ist durch Verfügung des Ministeriums der Justiz in Koblenz vom 4. August 1949 als Landgerichtsrat bei dem Landgericht Mainz eingestellt worden.

Die Eidesformeclass="underline"

„Ich schwöre Treue meinem Volk, Achtung gegenüber dem Willen der Volksvertretung, Gehorsam der Verfassung, den Gesetzen und meinen Vorgesetzten, sowie gewissenhafte Erfüllung meiner Amtspflichten.“

wurde ihm vorgelesen.

Unter Erhebung der rechten Hand leistete Landgerichtsrat Dr. Kornitzer den Eid mit den Worten:

„Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.“

Hierüber wird diese Urkunde aufgenommen und von dem Vereidigten mit unterschrieben.

Es war ihm so feierlich zumute, als würde die Zeit zurückgedreht, als wäre er noch in Berlin, als er zum ersten Mal vereidigt worden war, als er sich in aller Unschuld freute über den feierlichen Akt. Jetzt drängte die Arbeit, die Fälle wurden verteilt, er mußte seine Beisitzer zu sich rufen, er mußte sich einarbeiten, und so zog er sich rasch, nachdem er sich nach einem Platz umgeschaut hatte, wohin er das leere Weinglas stellen konnte, in sein Dienstzimmer zurück und begann, Akten zu studieren und die erste Sitzung vorzubereiten.

Am Abend im Bunker unter dem Licht der Seidenschirmlämpchen kam ihm sein Leben wie ausgedacht vor. Als hätte er gar keinen Charakter und kein Leben, sondern wäre eine hin- und hergeschobene Figur, die sich zu dieser passiven Bewegtheit vorzüglich eignete. Aber es nutzte nichts, in der Halle unter den übriggebliebenen Gästen zu sitzen, ihrem Holterdiepolter mit Schuhen und Gepäckstücken und auf dem Beton hin- und herschleifenden Stuhlbeinen zuzuhören, ihrem Kommen und Gehen zuzuschauen, ihre Gesichter vermied er anzusehen. Er mußte in seine Koje und saß noch eine Weile an dem kargen Tischchen. Er hatte das Gefühl, sofort an Claire schreiben zu müssen, daß er gut angekommen sei, daß er schon Kollegen kennengelernt habe, daß er vereidigt worden sei. Ja, er müßte sofort an Claire schreiben, damit ein Zipfel der Spontaneität, die sie durch die lange Trennung verloren hatten und die mühsam wieder zum Vorschein kam, gewahrt bliebe. Er hätte schreiben müssen, er sähe vor sich eine Folge von überbelichteten Bildern in engen Zimmern, in Schläuchen, in denen die Decken zu hoch waren, in denen es an zu öffnenden Fenstern mangelte und die Türen wären nur dazu da, eine Schamschwelle zum Draußen zu bilden. Jede winzigste Dosis Lärm ließen sie hinein. Es war schmerzhaft, aber es war „wirklich“. Als wäre er am Bodensee in einer ihm zugedachten Filmrolle erstarrt. Aber das grüne Gras, die Kühe, die Berge, die Apfelplantagen und die rotbackigen Kinder und Claire, die das eine (die vernünftige Gegenwart) und das andere (die in einen Abgrund gerutschte Vergangenheit) miteinander bündelte, waren doch real, wirklicher als „wirklich“. Allein am Bodensee wäre er eine andere Person gewesen, gerafft, gestrafft, Claire hatte ihn mit der Person, die er gewesen war, bevor er emigrierte, verknotet, er kannte diese Person kaum mehr, ein junger Richter in einer Zivilkammer, Beisitzer eines Landgerichtsdirektors mit einem Schmiß am Kinn und einem energischen Haarwirbel auf dem Kopf. Nun schien ihm die eine Person (vor der Vertreibung) naiv und die am Ziel der Vertreibung sentimental, und die, die er am Bodensee entdeckt hatte in sich, war aufs Äußerste gespannt und war sehr, sehr nachdenklich geworden, und er wußte nicht, was aus diesen unverbundenen historischen Teilen geworden wäre, säße er hier nicht still in der Bunkerzelle ohne eine einzige Ablenkung, nur sich selbst und seiner Untätigkeit überlassen. Er war bei sich und ganz weit weg, wie ein Beobachter, der ihm (also sich selbst) den Puls fühlte und ihm starr ins Gesicht sah. Ein Beobachter, der zu ihm hoffnungsvoll „Landgerichtsrat Dr. Kornitzer“ sagte, als wolle er ein Gespräch führen, das dann doch nicht stattfand, und er wunderte sich nicht. Auch erschrak er nicht mehr sonderlich bei der ungewohnten Bezeichnung.

Bang, schlug eine Eisentür, und es war ein Gefühl, als schlüge sie gleich neben seinem Kopf zu, schlüge auf seinen Kopf. Der Knall vibrierte noch nach, er erwartete das nächste Türenschlagen, ein unendliches Türenschlagen. Er nahm die dünne Decke vom Bett, wickelte sie sich um die Knie, er hätte sie sich um die Ohren wickeln müssen, aber dazu war sie zu groß und zu sperrig, sie roch auch nicht gut, und gleichzeitig geriet er ins Tagträumen. Und in diesen Träumen spielte Claire so gar keine Rolle, eher waren es steife Hüte, die er vor sich sah, solche, die man zwei Jahrzehnte später Arbeitgeberhüte nannte, Hüte, die auf einem Schachbrett hin und her geschoben wurden, er sah sie vor sich, ganz ohne Leidenschaft und innere Beteiligung, und nachdem er mit diesem Bild eine Zeitlang — wie lange, konnte er nicht sagen — gedriftet war, warf er sich seine Leidenschaftslosigkeit vor, und gleichzeitig wußte er, daß er zu streng über sich selbst urteilte. Vielleicht war es übertrieben, an sich selbst einen Maßstab legen zu wollen, der mit seiner professionellen Urteilsfähigkeit nichts mehr zu tun hatte (oder nichts mehr zu tun haben wollte). Es war eine Reaktion des Gehirns. Jetzt war es genug, er machte sich für die Nacht fertig, morgen, morgen würde er Claire berichten. Aber das, was ihm durch den Kopf ging, war es nicht, was er im ersten Überschwang schreiben wollte. Der Bericht war eine Schrumpfform, die seine Empfindungen nur mühsam in sich aufnehmen konnte. Die Ereignislosigkeit, aus der sich nur ein sinnloses Bild ergab, war richtiger. Er stand an einem Neuanfang, und er würde ihn gut bestehen. Es war fast ein Versprechen, das er sich selbst gab.

Mombach

Häuserchen in einer Gasse aneinandergelehnt, mit der Schmalseite nebeneinandergeklebt. Finger müssen klebrig geblieben sein beim Biegen und Kniffen wie bei einer kleinteiligen Bastelarbeit. Alles ist feucht, befeuchtet, in einer künstlichen Erregung gehalten worden, in einer Erregung, die nur das Miniaturformat betrifft. Die Größe des Problems ist von der Kleinheit (Kleinlichkeit) des Formats nicht betroffen. Das Format stellt sich selbst aus, und zwar so: Ein Mann mit einem gewissen Anspruch braucht eine Wohnmöglichkeit, die seiner zukünftigen Arbeit angemessen ist. Er hat eine Familie, mittelgroß, die noch zerstreut ist, die er aber sammeln möchte. Eine gute Wohnung wäre wie ein Herd, um den sich die Familie scharen könnte, eine Hoffnung, wie alles optimistisch, hoffnungsvoll, mittelgroß hoffnungsfroh arrangiert sein müßte. Also nimmt Kornitzer die Trambahn Nr. 1 und fährt hinaus in den ihm vorgeschlagenen (angewiesenen?) Bezirk, nach Mombach. Die Zerstörungen an der Mombacher Landstraße, dort wo sie hinter dem Güterbahnhof beginnt, hatte er schon gesehen. Mit seinem jetzigen Ausflug verbunden ist eine gewisse Ängstlichkeit, er versucht, sie mit der Zukunftshoffnung in der Waage zu halten. Er fährt an hüfthoch zu Wällen aufgeschichteten Ziegeln vorbei, die aus den Trümmergrundstücken herausgeklaubt und vom Mörtel befreit worden sind, er hat ein Klopfen im Ohr, ein dauerndes Hämmern, Klappern, Pochen und Schaben, es begleitet ihn den ganzen Tag, rastlos, mit verbissenem Eifer werden die Fahrwege und die Grundstücke freigeschippt und freigeschaufelt. Aber nun ist Mittagspause, und die Schuttbahn, die in kleinen Loren die Ziegel dorthin transportiert, wo sie gebraucht werden, steht still. Die Frauen, die sie lenken und die die Steine abklopfen, sitzen am Straßenrand und beißen bedächtig in Brote. Zwischen die Knie haben einige Thermosflaschen geklemmt. Ruinen und Staub, Staub und Ruinen. Kurz nach dem Kriegsende, so hatte ihm ein Justizangestellter erzählt, habe es „Arbeitsfallen“ gegeben. Wo man im Trümmergewirr nicht auf Hausbewohner zurückgreifen konnte, weil sie tot waren oder evakuiert, habe man Passanten zur verkehrsnotwendigen Entrümpelung gezwungen. Für drei Stunden, für fünf Stunden, für zehn Stunden. Zuhause oder in dem, was von einem Zuhause übriggeblieben war, hätten die Angehörigen voller Sorgen gewartet und sich geängstigt. Diese Methode sei sehr erfolgreich gewesen. Keine Werbung um Freiwillige zum Schippen hätte die Straßen in so kurzer Frist wieder betretbar gemacht.