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Kornitzer befingerte in der Tasche noch einmal den Berechtigungsschein, dann machte er kehrt. Er erreichte einen Platz, den die Straßenbahn umkurvte, da stand die Ortsbürgermeisterei, ein trutziges Gebäude, das unbeschadet den Wilhelminismus überlebt hatte und treuherzig in den hellen Tag guckte. Es war nur wenig größer als die Siedlungshäuser in den Gassen, ein schmales, dreifenstriges Häuschen mit einem doppelten Sims zwischen Erdgeschoß und erstem Stock und einem dreiteiligen Fenster im Dachgeschoß. Auch dieses Gebäude hatte Sandsteinumrandungen der Fenster und Türstürze. Eine protestantische Pfarrkirche mit einer breiten Turmhaube, zwei katholische Kirchen: Herz Jesu und St. Nikolaus, eine mit einem eingestürzten Dach, die andere mit handschriftlichen Spendenaufrufen für den Wiederaufbau vor der Tür, das schien ihm etwas viel. Aber sich darüber zu erheben, war unangebracht. Die Friedhofskapelle hatte einen heftigen Treffer abbekommen, eingeknickt lag das Türmchen auf einem Gräberfeld. Auch auf der Hauptstraße gab es Zerstörungen, eine schwarze Schneise, die die Brände gerissen hatten.

In der Nähe bäuerliche Anwesen mit einer kleinen Landwirtschaft, einem Misthaufen und einer Handvoll scharrender Hühner, die Gemarkung hieß: Auf dem Großen Sand. Er ging aus dem Ort hinaus, an einem Gemüsefeld entlang, ging auf einem Feldweg, der auf ein Wäldchen zu führte. Auf der Wiese erkannte er den Roten Storchenschnabel, die violette Schwarzwurzel, das gelbe Sandfingerkraut und Salzkraut, eine schöne in die Mulde gedrückte Mischung, daran war nichts zu deuteln. Er roch auch noch die Blüten der Küchenschellen, der Sandwolfsmilch, sah das Liesch. Das Knabenkraut schoß hoch auf, mit feinen rosafarbenen Trichterblüten. Nein, die Aufmerksamkeit veränderte sich nicht, wurde nur zögerlicher, Kornitzer streckte alle empfindsamen Antennen aus.

Als er den Fuß abseits des Weges auf den Sand gesetzt hatte, merkte er: Nein, keine Natur, Natur tat ihm nicht gut, öffnete, ließ zerfließen, was er in sich selbst zusammengezurrt hatte. Zusammengebissene Zähne, Muskelanspannung, der ganze innere Haushalt brauchte eine Struktur der Festigkeit. Und auf Sand schien die ganze vorstädtische Angelegenheit gebaut zu sein, Teil der Gemarkung des Großen Sandes. Als er seinen Ausflug ankündigte, hatte jemand im Gericht ihm gesagt, hier sei einmal ein militärisches Übungsgebiet gewesen. Sand der Zeit rann durch den Ort hindurch, ein Sandsturm, gegen den die Häuser sich nicht abdichten konnten. Hier und da hatte ein Haus Fensterläden, also vielleicht ein intimes Geheimnis.

Er ging wieder zum Ortsausgang, ein Wäldchen, eine Aussicht auf eine Bodensenke, Wiesenschaumkraut und wieder Apfelbäumchen, Streuobstwiesen, ein vorstädtisches Auslaufmodell, aber war es schon ausgelaufen, oder wann würde es auslaufen, vielleicht nie. Eigentlich wollte er mit diesem Ortsteil im Norden der Stadt nichts zu tun haben, es zog ihn ins Landgericht zurück. Er stieg in die Straßenbahn, fuhr drei, vier Stationen und stieg wieder aus, dort wo er die hohen Schornsteine gesehen hatte, einige waren zerstört, Trümmer ragten in den Himmel, hohle Zahnstümpfe. Eine Glasfabrik, Metallwerke und der beißende Geruch aus einer Fabrik, die Schuhwichse herstellte, er sah ein Medaillon mit einem Frosch in gespannter Hüpfstellung, das Maul sehr breit, er hatte eine Krone auf dem Kopf. Ein Froschkönig, der über ein Regiment gut geputzter Schuhe herrschte, und keine Prinzessin weit und breit. Er sah die Brückenpfeiler am Fluß: zerstört. Kinder ließen Steine über die Oberfläche des Flusses hüpfen. Auf den Bahngleisen am Fluß entlang rumpelte ein langer Güterzug. Er roch die Kläranlage, den Muff der Lagerhallen, Arbeiter gingen durch das Tor, mit der Gewißheit, eine Arbeit zu haben, als hätte diese Arbeit nicht bei einem einzigen Bombenangriff zunichte gemacht werden können. Und die, die diese Arbeit verrichteten, dazu.

Wieder im Landgericht, begann er im Geschäftszimmer ein Urteil zu diktieren, es klopfte, und Landgerichtsrat Beck stand in der Tür. Darf ich Ihnen Rechtsanwalt Damm vorstellen? Er hat schon zweimal nach Ihnen gefragt. Aber da waren Sie nicht im Haus. Kornitzer gab sich Mühe, seinen Halbsatz ordentlich zu Ende zu bringen, während Beck die Augen zusammenkniff, als wäre er geblendet, und seine Augenbrauen bildeten einen waagerechten Strich. Und noch ganz in Gedanken nickte Kornitzer Beck zu und streckte dem Gast eine Hand entgegen. Damm, der ihn schriftlich vor Mainz gewarnt hatte. Da sah er: Die Hand des Rechtsanwaltes rührte sich nicht. Sie steckte in einem schwarzen Lederhandschuh, darunter eine starre Prothese, und Damm gab ihm seine linke Hand und sagte: Im Landgericht Littenstraße in Berlin, das war eine schöne Assessorenzeit. Er bleckte dabei ein großes parodontöses Gebiß mit freistehenden Zahnhälsen im Unterkiefer, das Kornitzer schreckte, und dann geschah ihm etwas, was ihn sehr verwunderte, etwas, das ihm noch nie geschehen war: Über der Prothesenhand, dem angewinkelten rechten Arm sah er einen zweiten Arm sich in die Luft recken, einen zweifellos eingebildeten Arm, der mit dem Hitlergruß grüßte. Jetzt, schoß es Kornitzer durch den Kopf, werde ich verrückt. Aber er ruckelte sich bald wieder zusammen, keineswegs wurde er verrückt, es war nur ein Bild, das er vertreiben mußte, so rasch, wie es ihm in den Kopf gekommen war. Ein flüchtiges Bild, das ihm den Blick auf die wirkliche Begegnung verstellte. Ein Gespräch, nur mit ein paar Höflichkeiten gepflastert, war ihm daraufhin nicht mehr möglich, er würde später, später Beck fragen, was denn das Spezialgebiet von Rechtsanwalt Damm sei. Die Herren verabschiedeten sich wieder, Kornitzer schloß die Tür, die Schreibkraft las ihm den letzten Halbsatz vor.

Am Nachmittag konnte er sich nicht wirklich auf das Aktenstudium konzentrieren. Er stellt sich die hochgewachsene Claire vor, wie sie in einer der vorstädtischen Gassen ging, eine Tür aufschloß, und es kam ihm vor, als müsse sie sich bücken am Türstoß, doch so groß, wie er sie in der Phantasie machte, war sie in Wirklichkeit nicht. Er fragte, bevor er das Landgericht verließ, nach Landgerichtsrat Beck, aber der war in einer Sitzung. Er wartete auf ihn und stellte seine Frage. Oh, Rechtsanwalt Damm ist ein Spezialist für alles, nichts Besonderes. Ich verstehe, antwortete Kornitzer; in Wirklichkeit verstand er nichts.

Am Abend fuhr er wieder hinaus in die Vorstadt, fragte sich jetzt zu der Gasse durch, in der zwei Zimmer frei sein sollten. Er gab sich einen Ruck, klingelte an dem angegebenen Haus, „Dreis“ stand auf dem Schild. Ein kleines Mädchen öffnete, er fragte nach dem Vater. Der ist noch in Gefangenschaft, platzte das Kind heraus, und dann kam die Mutter, eine bläßliche Frau mit kräftigen, dunklen Augenbrauen und einem vollen, aber zusammengekniffenen Mund. Er sagte sein Sprüchlein: Bei ihr seien wohl zwei Zimmer zu vermieten, ob er sie ansehen könne? Er zeigte ihr den Berechtigungsschein, den sie ernsthaft studierte. Oh, Sie sind Opfer des Faschismus? sagte sie und wirkte erschrocken. Ja, sagte er einfach, und ich brauche eine Wohnung. (Der Berechtigungsschein wies ihn als Opfer aus.) Ich bin nicht die Vermieterin, das Haus gehört meinen Schwiegereltern. Aber Sie können mir doch sicher die Zimmer zeigen? Es ist nur ein Zimmer, das zweite ist schon vergeben an meinen Schwager. Aha, sagte Kornitzer, das hätten Sie aber dem Wohnungsamt melden sollen. Die Frau zuckte die Schultern, Kornitzer wußte nicht, ob es ein Schulterzucken war, das sich über eine Bestimmung hinwegsetzte, oder ob es eine wirkliche Obstruktion war. Kommen Sie, im zweiten Stock, aber auf der Treppe ist kein Licht. So faßte die Frau ihn einfach an der Hand und zog ihn ins Haus, das Kind folgte, sprang dann über zwei Stufen und drängte sich an ihm und seiner Mutter vorbei und rannte die Treppe hoch. Ich hol eine Kerze. Verbrenn dich nicht, rief die Mutter ihm nach. Es war Kornitzer angenehm, an der warmen Hand einer fremden jungen Frau eine Treppe hochzugehen, Stufe für Stufe, auf dem Treppenabsatz machte sie kurz Halt, als wäre ihr der Weg zu viel. Da trat oben das kleine Mädchen aus einer Tür, die Kerze in seiner Hand blakte, warf unruhige Schatten an die Wand. Feierlich sah es aus, als ginge es an der Spitze einer Prozession. Im flackernden Licht sagte die Frau: Ich habe noch kein einziges Opfer des Faschismus zu sehen bekommen. Das ist ein Fehler, sagte Kornitzer, und sogleich tat ihm sein belehrender Ton leid. Er wußte, daß er in ihren Augen ein Ausstellungsstück war, und es fiel ihm ein, daß seine Juristenkollegen einen solch einfachen Satz nicht über die Lippen gebracht hatten bei der Amtseinführung. Die Frau Dreis schaffte es auf Anhieb. Was konnte die kleine Frau in der Vorstadt dafür, daß ihr Blick verengt war? Er sah, wie sie die Unterlippe mit den Zähnen des Oberkiefers einkniff und ihn prüfend ansah. Auch das Kind sah ihn jetzt an im Kerzenlicht, als wäre er ein komischer Heiliger aus einer anderen Religion.