Hier ist das Zimmer. Die Frau löste die Situation auf, indem sie eine Klinke herunterdrückte und das Licht anknipste. Ein Schwall Kälte kam aus dem Zimmer, ungelüftete kalte Luft, er sah ein Bett, einen Nachttisch, ein Tischchen vor dem Fenster, das eher ein Nähtischchen war, einen bulligen, viel zu großen Kleiderschrank und einen emaillierten Ofen mit einem ellenlangen Ofenrohr an der Wand entlang. Die Streifen der Tapete waren mild und freundlich, jedenfalls nicht störend. Kornitzer trat in das Zimmer, sah aus dem Fenster, tatsächlich, ein Apfelbaum! Entschuldigung, sagte er, ich muß in diesem Zimmer auch arbeiten können. Könnte man den kleinen Tisch durch einen größeren ersetzen? Kann man wahrscheinlich, sagte die Frau, ich muß meine Schwiegermutter natürlich fragen. Und wo ist das Bad? fiel Kornitzer plötzlich zu fragen ein. Wir haben kein Bad, wir waschen uns alle in der Waschküche im Keller. Aha, sagte Kornitzer, die ganze Siedlung hat keine Bäder? Manche Leute haben sich ein Bad einbauen lassen, als noch Geld da war, sagte die Frau. Ich verstehe. Also war kein Geld da, also mußte vermietet werden. In der Waschküche, mischte sich das Kind plötzlich ein, steht ein großer Kessel. Das auch, lenkte die Frau ein, ein Waschkessel, und es gibt ein ordentliches Waschbecken und einige Bütten. Jetzt fiel Kornitzer der Geruch auf, der kalte, strenge Geruch, er reckte sich ein wenig und sah, auf dem Kleiderschrank waren auf einer Zeitung Äpfel ausgebreitet. In ordentlichen Reihen lagerten sie da, keiner berührte den anderen, damit kein wurmstichiger Apfel den benachbarten anstecken konnte. Es war ein schönes, rührendes Bild, gelbhäutige Äpfel mit einer schrumpeligen Schale, ganz anders als die Apfelfülle, die er in Bettnang im Herbst gesehen hatte. Er deutete mit dem Kinn nach oben: Sicher Äpfel aus dem Garten? Ja, sagte die Frau, wollen Sie einen? Sie wartete seine Antwort nicht ab, stieg auf den einzigen Stuhl im Raum und gab ihm einen Apfel. In diesem Augenblick polterte es unten, die Schwiegereltern, sagte die Frau sachlich, gehen wir. Als hätte sie genug Zeit mit ihm verbracht und sehnte sich in die Geselligkeit, in die familiäre Gemeinschaft zurück. Als hätte ein Blick in das Zimmer ihm genügt, Kornitzer hätte zum Beispiel die Matratze prüfen und das Schublädchen des Nachttischs öffnen wollen, einfach so. Und das kleine Mädchen rief: Oma, Opa, wir haben Besuch! Es stürmte die Treppe hinunter, dabei verlöschte die Kerze. Kornitzer kam mit der Frau im Dunklen herunter, diesmal faßte sie ihn nicht an der Hand, er trug vorsichtig den Apfel, der kalt und gar nicht schrumpelig in der Hand lag, sondern sanft und glatt. So trat er in den Lichtkegel des unteren Flurs.
Der Herr hat einen Berechtigungsschein für zwei Zimmer, aber wir haben nur eins, die junge Frau Dreis nahm ihm die Vorstellung ab. Er ist Opfer des Faschismus, sagte sie. Die Schwiegereltern, der Mann kahl und bedächtig mit einem rotgeäderten Zinken mitten im Gesicht, die Frau mit flinken Augen und Händen, die sie sofort in eine Jackentasche steckte und wieder herausgrub, ohne eine wirkliche Initiative zu entwickeln, sahen ihn an und nickten, die Hand gaben sie ihm nicht. Wenn Sie das Zimmer haben wollen, können Sie morgen einziehen, sagte die alte Frau Dreis. Sie sind willkommen. Ich muß nur noch putzen und die Äpfel wegräumen. Sie sprach das „willkommen“ so sachlich und knapp aus, daß Kornitzer sich nicht wirklich willkommen, aber auch nicht abgewiesen fühlte. Es war etwas dazwischen, für das er keinen Namen hatte, vielleicht „selbstverständlich“. Die junge Frau Dreis erinnerte ihn daran, daß er um einen großen Tisch zum Arbeiten gebeten hatte. Er brachte sein Anliegen noch einmal vor und hörte: Wir haben einen Tisch in der Waschküche, auf dem bügle ich. Den können Sie haben. Er wackelt nur ein bißchen, beschied ihn die alte Frau Dreis. Das war eine nette, spontane Geste.
Er versuchte es noch einmal, räusperte sich: Ich habe einen Berechtigungsschein für zwei Zimmer, meine Frau ist noch in Süddeutschland. Herr Dreis sagte: Auch mein Sohn braucht ein Zimmer, ich kann ihn nicht bei meiner Schwiegertochter und dem Kind einquartieren. Selbstverständlich nicht, antwortete Kornitzer ein bißchen zu beflissen und fügte hinzu: Aber das zu vermietende Zimmer ist ja nur für eine Person geeignet. Ich muß meiner Frau die Situation schildern. Und dann hatte er eine Eingebung, die ihn selbst überraschte: Vielleicht will sie gar nicht kommen. Die junge Frau sah ihm jetzt offen ins Gesicht, wie wissend, kam es ihm vor. Und Kornitzer sagte: Ich gebe Ihnen in den nächsten Tagen Bescheid. Er verabschiedete sich, und es fiel ihm auf, daß die junge Frau ein Lächeln in den Augen hatte.
Vielleicht will Claire gar nicht kommen. Einerseits wäre dies traurig, eine Niederlage für ihn, andererseits auch vollkommen verständlich, sie hatte jahrelang notgedrungen alleine verbracht, in möblierten Zimmern gehaust, der Hausstand zerstreut, verloren, aufgegeben, die nackte Existenz war ihr vernichtet. Wenn Claire und er wieder eine richtige Ehe führten, dann doch unter guten Bedingungen. Die guten Bedingungen erleichtern eine gute Ehe, das war zwar nicht bewiesen, aber der Satz war beruhigend nach so viel Kummer, Unruhe, Zweifel. Diesmal fuhr er ohne ein müßiggängerisches Spazierengehen gleich in die Stadt zurück, erbat sich eine Postkarte an der Rezeption des Bunkerhotels. Liebe Claire, schrieb er rasch, nach dem Berechtigungsschein stehen mir und meiner Ehefrau zwei Zimmer zu. In der ganzen Stadt scheint aber nur ein einziges Zimmer verfügbar zu sein, jedenfalls nur eines, das mit meiner Berechtigung zu mieten ist. Es ist ein nettes Zimmer bei netten Leuten, und der Blick geht auf einen Apfelbaum. Willst Du unter diesen Bedingungen kommen? Oder willst Du abwarten, bis ich eine bessere Wohnmöglichkeit gefunden habe? Bitte antworte mir so rasch wie möglich, ich muß mich entscheiden. Dein Dich stets liebender Richard.