So hatte er früher seine Briefe an Claire unterzeichnet, und er sah trotz aller voraussehbaren Schwierigkeiten keinen Grund, nun eine andere Formel zu finden. Als er mit dem Schreiben fertig war, setzte er sich auf die Bettkante, die eine Pritschenkante war, aß langsam den Apfel, nicht aus Hunger, sondern aus müder Gier, also ohne wirklichen Genuß, bis ihm der Saft auf den Unterkiefer tropfte.
In der Nacht wachte er ganz unmotiviert auf, dachte an das kleine, lebhafte Dreis-Mädchen, das mit der Kerze die Treppe beleuchtet hatte. Es war ungefähr so alt wie seine Tochter Selma, als Claire sie und ihren größeren Bruder in einer herzzerreißenden Aktion wegbringen, wegschicken mußte, und die Kinder begriffen es nicht. Claire kam zurück und weinte fassungslos. Sie sagte: Selma klammerte sich um meine Beine, als wären es Säulen. Ich mußte fast treten, damit sie die Umklammerung losließ. Und als ich sie noch einmal oder wirklich erst von mir abgenabelt, von meinen Beinen abgepflückt hatte, in denen sie sich mit ihren Händchen verkrallt hatte, kam ich mir wie eine Verräterin vor. Ich setzte meine Kinder aus — mit Pappdeckeln, auf denen eine Nummer geschrieben stand, um den Hals, in einer abstrakten Vernünftigkeit, aber alles Konkrete, meine Liebe, meine Besorgnis und die meines Mannes spielten nur eine untergeordnete Rolle. Sie sprachen darüber, sprachen ernsthaft und lang, und die Entscheidung, die sie fällten, hatte keinen Namen, aber eine entschiedene Rationalität, die aller Elternliebe und dem Alter, dem ängstlichen Zustand der Kinder widersprach. Es war entsetzlich, daran zu denken. Es war entsetzlich, sich Claires versteinertes Gesicht vorzustellen, als sie sagte: Gut, es hilft nichts, ich bringe die Kinder zu einem Kindertransport nach England. Es hilft dir und mir, und es macht uns todtraurig. Ihre Vernünftigkeit war musterhaft, so hatte er sie in Erinnerung behalten. Und so musterhaft, so beispielhaft war er nicht geblieben. Als wäre er in Kuba in der Hitze erweicht worden, aufgeweicht, entfesselt vom Zwang der Rationalität, so kam er sich jetzt vor. Vielleicht hätte er auf der Postkarte noch einen Satz hinzufügen sollen: Die Vermieter haben eine Tochter in Selmas Alter, Du wirst sie gleich mögen. Dann verwarf er den Gedanken wieder. Das fremde Kind würde Claire nur traurig machen, solange sie von den eigenen Kindern getrennt war. Schließlich fühlte er sich wie vor den Kopf geschlagen: Natürlich, das Dreis-Mädchen war etwa so alt, wie Selma gewesen war, als Claire sie wegbrachte. Selma war jetzt fünfzehn, das wußte er theoretisch, aber der Kalender war für ihn stehengeblieben. In seinen Gefühlen war Selma immer noch die Vierjährige.
Er sprach noch einmal im Wohnungsamt vor, ging, mit seinem Berechtigungsschein wedelnd, an der langen Schlange der Wartenden einfach vorbei, überhörte das Murren und schilderte der Frau das Problem. Zwei Zimmer standen ihm zu, aber die Familie erwartete den einen Sohn aus der Gefangenschaft zurück, und der andere war nach Hause gekommen und sollte nicht bei der Schwiegertochter und ihrem Kind wohnen. Da kann ich auch nichts machen, sagte die Frau mit müder Stimme. Sie wissen doch, in unserer Stadt sind 80 Prozent des Wohnraums zerstört. Ich weiß, antwortete Kornitzer, nicht nur Wohnraum. Und dachte: Auch Empfindungen, 80 Prozent Mitleid konnte er sich als eine Summe nicht genau vorstellen. Insgeheim hatte er erwartet, das Wohnungsamt wäre in der Lage, Zimmer und Wohnungen zu requirieren, das hatte die Besatzungsmacht für ihre eigenen Ansprüche getan, am Rheinufer und in Mainz-Süd, wo es einigermaßen heil geblieben war, das hatte Kornitzer selbst gesehen. Aber für ein Opfer des Faschismus kam das nicht in Frage. Keine Extrawürste. Er wunderte sich auch über die divergierenden Zahlen zur Zerstörung, jeder schien seine eigene Übertreibung zur Hand zu haben, die vielleicht auch eine Untertreibung des Empfindens war. Daß er einen Berechtigungsschein hatte, daß er die lange Schlange der wartenden Wohnungssuchenden überholen konnte, war schon Vorrecht genug. Es gab andere Probleme als die Zusammenführung eines Ehepaares.
Also nichts zu machen? drängte er noch einmal die Angestellte. Sie schüttelte den Kopf. Dann ging er fort und wußte nicht wirklich, wie er sich entscheiden sollte. Er war müde und wollte sich nicht entscheiden. Die Tage verschwammen in seinem Kopf, dann erreichte ihn ein Telegramm, das Claire in Lindau aufgegeben hatte. Bleibe vorerst hier Stop Besuche dich Stop Claire. Kornitzer hätte gerne gewußt, was sie bei dieser nüchternen Mitteilung dachte (und fühlte). War sie enttäuscht? Konnte sie sich die gewaltige Zerstörung der Stadt, die Hoffnungslosigkeit, so bald eine angemessene Bleibe zu finden, gar nicht vorstellen? Drängte es sie nicht, mit ihm das gemeinsame Leben wieder aufzunehmen?
Man müßte sich jetzt an einem Tisch unter der Seidenschirmlampe gegenübersitzen wie früher in Berlin, das Für und Wider haarklein durchgehen, so wie sie gemeinsam seinen Weg in die Emigration besprochen hatten (oder vorher sein logistisch streng geplantes Bleiben, bis es nicht mehr ging), wie sie die Verschickung der Kinder besprochen hatten, haarklein abgewogen: Was sprach dafür? Die Sicherheit, in der die Kinder sein würden. Was sprach dagegen? Das geringe Alter der Kinder. Ihre Zartheit. Die Gefühle der Eltern. Also sehr, sehr viel. Und doch war die Entscheidung, die sie schließlich fällten, vollkommen rational, sie entschieden sich sozusagen wider Willen, gegen die Besorgnisse, auch gegen die elterlichen Gefühle. Sie tauschten Argumente aus, und so war am Ende alles gesagt, und sie waren sich mit Reden und Gegenreden vollkommen einig, auf eine zitternde ängstliche Weise einig, jeder von ihnen allein hätte eine solche rationale und den eigenen Empfindungen entgegengesetzte Entscheidung niemals treffen können. Gemeinsam waren sie stark, jedenfalls entscheidungsstärker, jedenfalls abstrakter in der Empfindung von Angst und der Abwehr der Angst. Es war ein Prozeß, der der genauen Erfassung der Wirklichkeit diente. Daß es bei aller Verzweiflung damals schön war, mit Claire so im Schein der Lampe zu sitzen und leise zu sprechen, damit die Kinder nicht wach wurden, daran dachte er jetzt. Er hätte auch jetzt gerne Claire angeschaut, er stellte sie sich vor wie in Berlin im Lampenlicht, nicht wie in den letzten Wochen bei den Spaziergängen in den grünen Wiesen über dem See, es gelang ihm einfach nicht, das gegenwärtige, spitz gewordene Gesicht in seinem Gedächtnis gegen das frühere auszuwechseln. Claire saß im Berliner warmen Lampenlicht in der schönen Wohnung in der Cicerostraße, er war ein junger, hoffnungsvoller Jurist (gewesen) und Claire eine Finanzfachfrau, die Geschäftsführerin einer feinen Firma geworden war, die früheren Besitzer hatten ihr vertraut und sie unter mehreren möglichen Kandidaten ausgewählt. Sie war dabei sehr gelassen, sie kannte nur Geschäftsführer und Steuerberater und ihre Mitarbeiter, aber das störte sie nicht, sie war gewappnet, bis an die Zähne mit Zahlen gewappnet, und lachte über seine Ängstlichkeit, ob sie „als Frau“ diesem Haifischbecken gewachsen war. Sie „als Frau“: das empfand sie als einen Witz. Natürlich war sie Frau, „und wie“, lachte sie ihn frech an, und wie. Stimmt! lachte er zurück. Und sie gefiel ihm ganz unbändig, und sie war staunenswerterweise seine Frau geworden. Natürlich wußte er, wie es dazu gekommen war.
Aber es war doch ein Wunder, wie jedes Glück wundersam ist und keine Frage nach dem Woher und Wohin stellte. Sie beherrschte das Metier, Finanzierungen, Verhandlungen, ein Kreditrahmen, Bürgschaften, im Zweifelsfall konnte sie den früheren Besitzer fragen, den Herrn Kommerzienrat, im Zweifelsfall ihren Mann, ihn, der sich gerne fragen ließ, um ihr einen Rat zu geben, einen unerbetenen Rat verbat sie sich. So mußte er warten, manchmal lange warten, bis sich in ihr, an ihr nur ein Hauch von Hilfsbedürftigkeit zeigte. Und er mußte sorgsam handeln, damit er seine lebhafte Freude, ihr helfen zu können, nicht übermäßig ausstellte. Denn das hätte sie mürrisch gemacht. Sie hätte vermutlich gesagt: Also lieber wäre dir wohl eine hilfsbedürftige kleine Frau gewesen, der du das Haushaltsgeld und Ratschläge in kleinen Portionen hättest erteilen können. Nein, nein, lachte er und umarmte sie. Dich wollte ich, die kluge, die tüchtige, die geschäftstüchtige Claire, niemanden sonst! Und später am Abend reichte sie ihm die Vollmacht herüber, die auf ihn übergegangen war mit der Heirat, die sie geschickt wieder an sich gezogen hatte als Geschäftsführerin einer GmbH, die sie in eigener Vollmacht auf ihren Namen begründet hatte. Und Kornitzer, der mit leichter Hand unterschrieb damals, als jemand, der möglicherweise in einem nicht auszudenkenden Fall, beim Tod seiner Gattin, Verpflichtungen übernahm, Verpflichtungen übernehmen mußte, fühlte sich stark, unendlich stark in der Nähe seiner starken Frau, und diese Stärke reichte auch noch bis in die Verfolgung, in die geplante Vernichtung, reichte wie eine Rampe, die ihn in ein anderes Leben weit weg von Claire geschossen hatte, hinein: in den Schiffsbauch, in das Ankommen, in den Hafen von Havanna, in die furchtbare tropische Hitze. Und dann war er von Claire abgetrennt, und er war ihr fast böse, als hätte er mit der Emigration (das sich anbietende Wort „Auswanderung“ kam ihm immer obszön vor, er war aus seinem Land verjagt worden) einen Weg beschritten, der so schwankend war, daß er ihn nur am Arm seiner Frau, oder seine Frau an seinem vermeintlich sicheren Arm hätte gehen können. Aber mit wem hätte er jetzt darüber sprechen können. So sprach er mit sich selbst, und das war nicht das Schlechteste, er mußte sich selbst kein einziges Wort vom Emigrantendeutsch ins neue Nachkriegsdeutsch übersetzen, das heißt: Er schwieg beharrlich, sprach auch nicht mehr im Kopf mit Claire, sprach nur noch mit sich selbst, also verstummte er.