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Später las er in einer Zeitung, daß sich die berühmte pressure group der Literatur, die Gruppe 47, auch gegen die Mitgliedschaft von Emigranten wehrte mit dem durchsichtigen Argument, diese sprächen und schrieben ein altmodisches Deutsch, jedenfalls nicht das Deutsch, das durch die Erfahrungen des Krieges, der Kriegsteilnehmerschaft und der Kriegsgefangenschaft gehärtet, gestählt worden sei. Mit anderen Worten: ein fremdes, altmodisches, zu wenig zugespitztes Deutsch, das den harten Tatsachen des Nachkriegs, der Assimilation von Kriegern an eine Nachkriegsgesellschaft nicht gewachsen war. Die Anpassungsleistungen, die die Emigranten schweigend, sich verneigend vor dem Los der Ausgebombten, Dezimierten leisten mußten, zählten nicht. Und die Vernichtung ihrer Existenz zählte auch nicht, sie waren auf eine schweigsam bestürzende Weise marginalisiert. Das eine war: in die Niederlage getrieben worden zu sein. Und das andere: in eine ausweglose Heimatlosigkeit getrieben worden zu sein, weitab von dem Empfinden für Sieg oder Niederlage. Und nun die Niederlage als Glück, als Empfängnis von etwas Einzigartigem, Neuem zu empfinden, war nicht gegen das Desaster aufzuwiegen, das Desaster war klamm, sprachlos und peinlich. Die bedingungslose Kapitulation, die Kornitzer ersehnt hatte, die über die Deutschen gekommen war, war leise. Die Minderheit hatte sich auf demokratische Weise dem schweigend bestehenden Mehrheitsdeutsch zu beugen, das war im Landgericht akzeptabel, aber nicht im privaten Bereich. Kornitzer dachte noch einmal an den Apfel, den ihm die junge Frau Dreis wie im Paradies vom Dach des Kleiderschranks geholt hatte, und er fühlte sich unendlich privilegiert, so sehr, daß er keine Worte dafür hatte. Er hatte den Apfel dann während der ganzen Trambahnfahrt unschlüssig in der Manteltasche hin und her gerollt. Er freute sich an seinem Richteramt, auch der Umgang mit den Beisitzern fiel ihm nicht schwer, und — auf ganz existenzielle Weise — freute er sich zu wohnen, wenigstens zeitweise, wenigstens versuchsweise. Er hatte den kleinen Kindern in Berlin einige Male das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten vorgelesen. Etwas Besseres als den Tod findest du überall, hatte er betont. Und die Kinder sperrten Mund und Nase auf. Ob es der Esel war, der diesen bedeutsamen Satz geäußert hatte, daran konnte er sich nicht mehr erinnern, aber es hätte zu seinem störrischen Wesen, das anderswo etwas vornehmer Stoizismus genannt wurde, gut gepaßt. Etwas Besseres als den Tod findest du überall, und er war ein Zeuge dieses richtigen und im richtigen Augenblick zu zitierenden Satzes.

An den Oberbürgermeister der Stadt, an die ihm zugeordnete Betreuungsstelle „Opfer das Faschismus“ hatte er noch vom Dorf über dem See geschrieben: Für Ihre frdl. Anfrage vom 13. ds Mts betr. meine Wohnung in Mainz danke ich Ihnen verbindlichst. Ich habe bisher noch keine Nachricht über den Zeitpunkt meines Dienstantrittes erhalten. Mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten der Wohnungsbeschaffung schlage ich vor, daß ich zunächst für kurze Zeit allein dorthin komme. Dafür würde ich nur ein möbliertes Zimmer benötigen. Genau so war es gekommen. Die freundliche Hoffnung auf eine komfortable Zweizimmerwohnung, auf eine Intimität zerschlug sich vor seinen Augen, ihm standen zwei Zimmer zu, von einer Wohnung war nicht mehr die Rede, aber auch die zwei Zimmer ohne Abgeschlossenheit, ohne Küche und Bad und ohne ein drittes kleines Zimmer für die inzwischen halbwüchsige Tochter gab es nicht. Damals noch aus dem Dorf hatte er weitergeschrieben: Meine Frau könnte dann zusammen mit meiner 14jährigen Tochter, die ich in Kürze aus der Emigration zurückerwarte, einige Zeit später auch in die Stadt kommen, damit wir alsdann eine gemeinsame Wohnung beziehen. Wir sind dann insgesamt drei Personen. Dafür benötigen wir unter voller Würdigung der Wohnungsnot: ein Schlafzimmer für meine Frau und mich, ein Zimmer für meine Tochter (dieses kann auch kleiner sein) und ein Arbeitszimmer für mich (das zur Raumersparnis auch gleichzeitig das gemeinsame Wohnzimmer sein kann). Meine Frau will den Haushalt zusammen mit meiner Tochter ohne Hilfe besorgen. Es ist also nur noch eine Küche nötig. Wir haben hier nur einige wenige eigene Möbel, insbes. gar keine eigenen Bettstellen.

Meine vordringliche Bitte ist also gegenwärtig nur, daß ich bei Dienstantritt für mich selbst eine für die Arbeit erträgliche Unterkunft finde. Das Weitere wird meine Frau, wie vorstehend angegeben, zusammen mit Ihnen beraten. Sobald ich nähere Nachricht für die Zeit meiner Ankunft habe, werde ich mich sofort melden.

Mit nochmaligem Dank für Ihre freundliche Mühewaltung bin ich

Ihr sehr ergebener

Dr. Richard Kornitzer

Das war ein feiner, keinesfalls unbescheidener Brief, der die Schwierigkeit der Lage für die Stabstelle „Opfer des Faschismus“, den Oberbürgermeister und für das Wohnungsamt gleichermaßen bedachte, ein Brief, der die eigenen Bedürfnisse zurücknahm und die Größe der allgemeinen Probleme nicht in Abrede stellte. Ein einfühlsamer Brief, wie der Oberbürgermeister und seine Stabstelle ihn vermutlich nicht täglich bekamen. (War er deshalb erhalten geblieben?) Und gerade wegen seiner abwägenden Rationalität mußte er hinhaltend, höflich und beiläufig beantwortet werden, damit sich aus der verwaltungsgemäßen Freundlichkeit nicht genuine Ansprüche ableiten ließen, das war Kornitzer klar. Und dann, als Kornitzer eigentlich doch befriedigend geendet hatte, fügte er der Ordnung halber ein P. S. an: Ich bemerke, daß ich noch einen 17jährigen Sohn habe, der sich ebenfalls seit 10 Jahren in England befindet, aber vorerst noch dort bleiben soll.

Bleiben und Nichtbleiben waren in einem empfindlichen Gleichgewicht. Claire blieb vorerst, er konnte ihr nichts Besseres raten, an ein Kommen von Selma war ohne eine entsprechende Wohnmöglichkeit nicht zu denken, das Bleiben von Georg war gar nicht in Erwägung gezogen worden. Richard Kornitzer hatte sich, zurückkehrend auf dem Schiff und bei der langwierigen Bahnreise von der Nordseeküste an den Bodensee, immer einen Tisch vorgestellt, um den er die Familie versammeln wollte, einen Tisch, der ihm viel wichtiger erschien als Betten, als eine Küche, als alles, was „Wohnen“ ausmachte. Würden erst Claire und er, würden sie beide erst mit Georg und Selma um einen Tisch herum sitzen (im Schein der Seidenlampe oder in Erinnerung an die Seidenlampe, auf die es auch in Wirklichkeit nicht ankam), dann wäre alles gut. Es gäbe einen Anknüpfungspunkt an die Zeit vor der Zerstreuung, vor der Zertrümmerung der kleinen Familie, die Claire und er mit eigenen Händen vornehmen mußten. (Als hätten sie sie zerhämmert, wie man Porzellan zertrümmern kann, aber es doch nicht wirklich will, es sei denn symbolisch: am Vorabend einer Hochzeit.) Von einer Wohnung war nicht mehr die Rede. Aber auch die zwei Zimmer ohne Abgeschlossenheit, ohne Küche und Bad und ohne ein drittes kleines Zimmer für die inzwischen halbwüchsige Tochter, gab es nicht. Da war nichts zu machen, was Deutschland zertrümmert hatte, hatte auch seine Nachkriegs-Pläne zertrümmert. Und er war mit viel Optimismus gekommen, mit Plänen, nur fehlte es an einem Feld, an Strategien, diesem Optimismus eine Bahn zu brechen, und so brach von seinem Optimismus Stück für Stück, schmolz in einer Lache dahin. Und was schmolz, war nicht der Rede wert. Es stand in keiner Relation zu den „wirklichen“ Problemen, die zu lösen er angetreten war.