Er zog zu den Dreisens, mit einem Koffer, und bat darum, am Klingelschild seinen Namen anzubringen, denn er erwartete Post, vermutlich viel Post, von den in Kuba gebliebenen und den in alle Winde zerstreuten Freunden, den Mitemigranten — und natürlich von Claire aus der milden Bodensee-Landschaft, in der sie so fremd war wie ein preußischer Meteorit. Die junge Frau Dreis (wo war die alte Frau Dreis, wenn er an den unteren Zimmertüren klopfte, immer im Garten, klopfte sie Steine? Er sah sie selten.) schrieb in netter Handschrift ein kleines Pappschild „Dr. Kornitzer“ und brachte es so neben dem Dreis-Schild an, daß jeder Blinde begreifen mußte, wer der Besitzer des Hauses und wer untergeschlüpft war. Was sollte Kornitzer dagegen haben, er war ja auch wirklich untergeschlüpft. Er wollte nicht wegen einer solchen Kleinlichkeit gekränkt sein, er wollte sich überhaupt nicht kränken lassen. Das hatte er sich vorgenommen.
Das familiäre Haus hatte eine gewisse Dynamik. Nun ja, wie ein Bienenkorb, dachte er manchmal, wenn er abends an seinem Tisch saß, dem Tisch, den er sich gewünscht hatte, oder er dachte: Türenschlagen. Viel Wind um nichts. Oder er korrigierte sich: Viel Lärm um nichts. Das kleine Mädchen — er hatte es gefragt, und es hatte ihm strahlend seinen Namen genannt: Evamaria — polterte im offenen Treppenhaus, rutschte kreischend vor Vergnügen das Treppengeländer hinunter. Das Treppengeländer war sein liebstes Spielzeug, viel anderes hatte es nicht, die junge Frau Dreis klapperte in der Küche mit Töpfen und Sieben und Emailleschüsseln. Die alte Frau putzte am Wochenende die Treppe und stieß mit dem Schrubber an die Treppenstufen, das ergab einen hohlen Ton. Herr Dreis sägte im Garten Holz. Er hatte keine gute Säge, ein Knirschen und Raspeln, ein schmerzhafter Kompromiß zwischen dem schartigen Sägeblatt und dem frischen, biegsamen Holz, aus dem fast noch Saft spritzte, wenn man einen Zweig herunterbog und prüfte. Den Sohn der Familie, seinen Zimmernachbarn, sah er nur flüchtig, er war außer Haus, auch häufig in der Nacht, rumorte dann frühmorgens in seinem Zimmer. Brauchte er das Zimmer überhaupt? fragte sich Kornitzer staunend und schluckte den kleinen Groll hinunter. Er wollte Claire bitten, ein Wochenende zu ihm zu kommen, unterließ es aber doch. Er wollte nicht, daß sie sich, dauernd krank, in der Waschküche wusch. Oder: Er wollte nicht, daß sie, durch die Kälte gegangen, geflüchtet, ihre offenen Wunden an den Füßen fremden Menschen zeigte, Menschen, die ihm nicht mehr so fremd waren. So versprach er, bald an den Bodensee zu kommen, bestimmt, aber der Arbeitsaufwand im Landgericht ließ eine Reise mit verspäteten, überfüllten Zügen nicht zu.
Die alte Frau Dreis hatte ihm fürsorglich eine weiße Decke auf den Bügeltisch aus der Waschküche gelegt. Der Aufwand mit der weißen Tischdecke war eher irritierend für Kornitzer. Abends breitete er Akten auf diesem wackligen, altersschwachen Tisch aus, brütete über der Aktenlage für den morgigen Tag. Und es hätte ihm nichts ausgemacht, einen feuchten Kringel von einem Glas Most oder einer Tasse Tee auf dem Holz zu hinterlassen, das wäre eine kleine vernünftige Veränderung der Ausgangssituation gewesen, nicht befriedigend, aber doch verständlich. Etwas geschah, etwas veränderte sich unmerklich, Gebrauchsspuren, Zeit verging, und das war eine vertraute Sache: Die eine Behelfssituation wog die andere auf. (Sie, die Vermieter, wissen nicht, wie ein Schreibtisch auszusehen hätte, und er duldet, erduldet die wacklige, dem Aktenstudium unangemessene Situation.) Und nun krumpelte jeder Aktenordner, den er mit nach Hause brachte, das gebügelte und gestärkte weiße Tischtuch, es verlor durch die Akten seine spröde Sauberkeit, so daß Kornitzer sich nach einer geringen Zeitspanne schuldig fühlte, nicht sehr, aber immerhin. Er wagte nicht, das Tuch abzunehmen, ehe es wirklich schmutzig war. So klappte er die Aktenordner auf einem reinlichen Tischtuch aus, sorgfältig pustete er, strich den zusammengekrumpelten Stoff wieder glatt, als käme es darauf an, als müßte er sich beliebt machen (der Herr, der das gute Tischtuch achtsam behandelt), aber er war ein Mieter, er war ein Mit-Ernährer der Familie Dreis (jedenfalls halbwegs), und das ganze Problem der Verpflanzung, der Erschütterung der Lebensveränderung auf allen Seiten wollte er nicht ins Spiel bringen, aber dann tat es die Familie Dreis doch.
Bald nach seinem Einzug klopfte die junge Frau Dreis an seine Zimmertür, er öffnete, in Gedanken bei der Sache, die er bearbeitete, starrte in die Dunkelheit des Treppenhauses und erkannte sie eigentlich erst an ihrer Stimme: Wollen Sie morgen Abend oder übermorgen Abend bei uns essen? Er hatte keine Ahnung, was diese Einladung bedeutete, aber er nahm sie an. Er hätte eine Einladung in einen Löwenkäfig angenommen oder in die Bischofsresidenz, wäre sie ausgesprochen worden. Eine solche Einladung und ihre Befolgung, wo immer sie stattfände, hätte er, seit er in Deutschland war, als hilfreich und lebensrettend für alle Seiten befunden. Das fremde Milieu, der andere Stallgeruch, ein Glück des Beginnens, ein Zelt, ein Einstand, der vielleicht zu feiern gewesen wäre. Ein Zirkus und ein Zirkusdirektor, Löwen waren nicht in Sicht, der Landgerichtspräsident, der ihn eingestellt (angefordert?) hatte, der Oberbürgermeister und der Bischof und seine Entourage waren an ihm und seinen Lebensbedingungen und Fluchtnotwendigkeiten vollkommen desinteressiert.
So bedankte er sich übermäßig und sagte nicht ganz ehrlich, er freue sich zu kommen. Und das war schon rührend, ja überwältigend. Landgerichtsrat Kornitzer wurde also an einem einfachen Abend an einen großen Tisch gebeten, die alten Dreisens saßen da, der Sohn Benno und die junge Frau Dreis, ihre dichten Augenbrauen schienen ihm heute in einem hochmütigen Bogen nach oben gespannt zu sein, und sie schaffte es, sich neben ihn zu plazieren, ohne die Augenbrauen zu bewegen, also mit einer gewissen Anspannung, und auf der anderen Seite saß Evamaria, der fast die Augen zufielen, dann wurde ihm ein Nachbar vorgestellt, der Tauben hielt und ein Freund der Familie war, auf den die Dreisens sichtlich stolz waren. Der Tisch war gedeckt mit einem hartleibigen Tuch, es war dem auf seinem Arbeitstisch ähnlich, eine knattrige Brettsteife, eine kalte Pracht. Offenbar machte es Frau Dreis Freude, in den harten Zeiten, die sie getroffen hatten, nicht nur Stärke zu demonstrieren, sondern die Packung Hoffmann’s Reisstärke, die in der Waschküche neben dem großen Bottich lag, auch exzessiv einzusetzen.
Es gab Brühwürfelsuppe und danach Löwenzahngemüse und Kaninchen mit Bratkartoffeln. Kornitzer erkannte sofort das weiche, etwas labbrige, faserige Fleisch. Des Kindes wegen fragte er nicht, ahnte sofort, eine der drei Kisten hinter dem Haus mußte leergeräumt geworden sein. Eine Schlachtung, ein Tiermord mußte am Vormittag stattgefunden haben und die kleine Evamaria vom Ort des Geschehens entfernt worden sein, mit einem netten, unverfänglichen Alibi: Blumen pflücken auf dem Großen Sand. Und tatsächlich stand ein Väschen mit Butterblumen, die schon die Köpfe hängen ließen, auf der Anrichte. Die alte Frau Dreis schöpfte aus dem Topf das Gemüse, das bitter schmeckte; Evamaria wolle es keinesfalls essen. Ihre Lippen biß sie aufeinander, und sie kreuzte auch instinktiv ihre Beine, als könnte das ihr eklige, bittere Gemüse durch alle möglichen Körperöffnungen in sie eindringen und dort ein Unheil anrichten, dessen Tragweite sie nur so ungefähr begriff. Sie hielt sich nah an ihre Mutter, die sich wiederum nah an Kornitzer hielt, der so tat, als bemerke er das nicht.