Dann war es Winter geworden, ja, ein übermäßig kalter Winter, die toten Flußarme froren zu, aber die Kälte hatte, wenn er mit der Tram in die Innenstadt — oder was von ihr übriggeblieben war — fuhr, auch eine schöne Klarheit. Der scharfe Geruch der Essigfabrik, der beißende der Schuhwichsefabrik waren von der kalten Winterluft „wie verschluckt“, warum das so war, wußte er auch nicht. Aber nach so viel sengender Hitze machte ihn die klirrende Kälte auch fröhlich. Und dann wußte er es: Die Kälte roch nicht, schwitzte nicht, und man mußte den Schweißgeruch, den eigenen und den der anderen Fahrgäste, in der Tram nicht ertragen. Sie klärte ihm den Kopf, natürlich fror er in seinem zu dünnen Zeug, kaufte sich einen teuren Wintermantel mit schönen Hornknöpfen, aber er dachte an Claire, an die aufplatzenden Frostbeulen an ihren Füßen, die Beschämung, mit der sie ihm ihre nackten Füße gezeigt hatte, als könnte er seine Liebe zu ihr verlieren, wenn er die offenen Wunden sah. (Seine nicht so offenliegenden Wunden sah sie nicht gleich, und das hatte auch etwas Gutes, Beruhigendes.)
Alles war ein bißchen besser geworden, als Kornitzer es sich an dem Abend ausgemalt hatte, während er die Fasern des Kaninchenfleisches zwischen den Zahnlücken hervorpulte. Ihm stand nun überraschenderweise als Landgerichtsrat ein Deputat an Brennstoff zu, das anderen Opfern des Faschismus sicher zur gleichen Zeit fehlte. Sie können sich nach allem, was sie erlebt oder erduldet haben, mit einem kalten Ofen oder dem Nichtvorhandensein eines Ofens abfinden, dachte er. Für die Kohlen mußte er zwar einen Teil seines Gehalts hinblättern, aber er mußte wenigstens nicht in den Wald — wenn überhaupt noch etwas von dem Wäldchen in der Gemarkung übrig war, nasse Zweige im Ober-Olmer Wald, die die Franzosen liegen gelassen hatten, und das war durchaus strittig, wenn jeder, der wollte und konnte, die Axt schwang. Er hatte die Dreisens bitten müssen, ihm eine Ecke im Keller für seine eigenen Kohlen einzuräumen, eine Ecke, die aber nicht abtrennbar war. Auf einem Verschlag, der auch kostbares Holz gekostet hätte, konnte er nicht bestehen. So war er auf Vertrauen angewiesen, daß sie sich nicht an seinem Eigentum vergriffen. Daß da Kohlen lagen, die sein Eigentum waren, ein kostbares Gut, sein eigentliches Eigentum, kam ihm selbst seltsam vor. Und seine Furcht vor dem Autoritätsverlust, er könne als Richter bestohlen werden, verbannte er. Er mußte die Aktenlage kennen, das Landgericht war ungeheizt, die Finger froren, die Nase lief, er hatte ja keine festen Arbeitszeiten, nur die Sitzungen und Konferenzen, da schien es ihm billig, daß er seine Vorbereitungen auf die Sitzungen im Dachstübchen bei den Dreisens zumindest nicht froststarrend bewältigen mußte. Wenigstens mußte er nicht die Axt schwingen. Und das ließ ihn doch eine ganze kalte Nacht lang nach dem schwierigen Gespräch gut schlafen.
Der Winter im Jahr vor der Staatsgründung der Bundesrepublik Deutschland war sehr streng gewesen. Es gab wenig Essen, und dieses auf Marken, Fett und Nährmittel hießen die ungewissen Kategorien. 800 Kalorien standen einem Erwachsenen zu. Aber nicht alles, was ihm zustand, konnte er auch abrufen, abholen. Die Geschichte war keine Markthalle. Der Markenbezieher, der Bezugsberechtigte magerte ab, schrumpfte, schmolz auf eine karge, knöcherne Gestalt, und er fror. Vielleicht wärmte man sich gegenseitig, wenn man es konnte oder mußte. Der Schock über diesen eisigen Winter saß noch in den Knochen, die Dreisens sagten es und auch die Beisitzer im Landgericht im darauffolgenden Winter. Vielleicht würde der Rhein wieder zufrieren, nicht nur seine toten Arme, vielleicht könnte man zur Bettbergaue gehen, in die Inseleinsamkeit, „übers Eis“ gehen, davor wurde natürlich offiziell gewarnt. Kinder fanden irgendwo Kufen, die sie sich unter schlechten Halbschuhen festbanden, ohne einen wirklichen Halt für die empfindlichen Knöchel, sie rammten auch alte Schlitten aus den Kellern und Schuppen über die Eisflächen und schlitterten bäuchlings auf der glatten Fläche. Es war ein großes Vergnügen, ein kostenloses, freies, ja anarchisches Vergnügen, das allen, die daran teilhatten und es bestaunten, im Gedächtnis blieb. Es waren auch schon Unfälle passiert, Eisgänger waren eingebrochen und gurgelnd untergegangen. Die Warnschilder nutzten nicht viel, das Eis, auf eigene Verantwortung zu betreten, war auch ein Glück, das niemand sich so einfach nehmen lassen wollte. Welches Unglück, welche Niederlage war in den letzten fünfzehn Jahren ohne eigene Verantwortung möglich? Jeder war hineingerissen in ein kollektives Denken und Empfinden, so war vielleicht der individuelle Entschluß, aufs ungesicherte Eis zu gehen, sich einen Knöchel zu brechen und/oder unterzugehen, ein Akt der Selbstbehauptung, ein freudiger Entschluß. Kornitzer ging nicht aufs Eis, das war er aus Berlin, von den vielen Havelarmen und den Kanälen nicht gewohnt. Die Fließgeschwindigkeit war unsicher, die Dicke der Eisschicht konnte nach einer Biegung des Kanals eine ganz andere sein als vor der Biegung. Kähne schnitten in die noch unfeste Eismasse und wirbelten sie wieder auf. Man hätte an tausend Stellen gleichzeitig messen müssen, und das war in der Großstadt nicht zu leisten. Vielleicht waren die Berliner auch ihres Lebens prinzipiell unsicherer; oder sie legten es nicht so ostentativ in Gottes Hand.
Hier in Mainz — das hatte er gleich gemerkt — war die Mentalität lockerer, schusseliger, achselzuckend. Und so wußte er nicht, ob sein Kohlenvorrat schwand, weil er es warm haben wollte bei der abendlichen Arbeit, oder ob jemand laumeierte und nicht übermäßig viele Kohlen nahm, aber doch so viele, daß Kornitzer zweifelte, ob seine Wahrnehmung des gestrigen, vorgestrigen Kohlenhaufens wirklich war oder ob er sich in einer Art von Ängstlichkeit, die sich rasch zu einer Paranoia auswachsen könnte, gründlich täuschte. Also unternahm er nichts, riß sich selbst aus dem unfruchtbaren Grübeln. Er dachte aber darüber nach, ob er als Mieter die freundliche Abendeinladung der Vermieter nicht erwidern müsse, ob seine Frau dazu kommen müsse, um tatkräftig Dinge in die Wege zu leiten, die ihm vollkommen fremd waren. Und wieder telegraphierte er an Claire am Bodensee: Willst du kommen Stop Dein Kommen sehr erwünscht Stop Richard. Die Liebesfloskel, die er nach kurzem Bedenken ausließ, sparte ihm Geld, vielleicht mußte Claire das Telegramm auch vor Zeugen lesen. Aber der Verzicht auf das Persönliche ließ das Telegramm auch sehr harsch wirken. Ein Brief hätte, da hatte er sich kundig gemacht, sieben bis zehn Tage gedauert, die Sehnsucht des Ehepaares nach einer Gemeinsamkeit wäre wie ein Sehnsuchtstropfen verdampft. Er schickte das Telegramm ab und war nicht glücklich darüber. Und sie antwortete ihm auch in einem Telegramm: „Kommen unmöglich Stop Brief folgt Stop“. Das machte auch nicht glücklich, aber wie nach einem Warum und nach einer Befindlichkeit fragen. So war keine Klarheit zu schaffen. So war gleichzeitig keine Ehe zu führen. Das war mit Händen zu greifen. Und so war auch keiner Gastfreundschaft gastlich zu antworten als ein Mann in einer Dachstube, zu höheren Aufgaben befähigt, mit einem wackligen Tisch, auf dem ein weißes Tischtuch lag, was ihm lästig war. Und daß es so war, machte ihn traurig. Die Folge war, daß er den weißgestärkten, bretterhart gedeckten Tisch an diesem Abend übermäßig früh verließ und ins Bett kroch, wie ein beschädigter, ein sein Geschädigtsein nicht anerkennender Mensch, mit anderen Worten: wie ein trotziges Kind, das sich verkriecht und hofft, eine liebende, warme Hand führe über die Decke, eine beschwörende Stimme sagte: Nun ist es wieder gut, komm doch, im Zimmer ist der Tisch gedeckt, es gibt Schokoladenkuchen, und du darfst dir das größte Stück aussuchen. So war es vielleicht mal in Breslau gewesen, aber so würde es nie mehr sein, weder für ihn, weder für Claire, aber vielleicht noch einmal für Georg oder Selma, sie beide waren zu groß und zu fremd geworden für so eine herzerwärmende, tröstende Geste. Und diese Gewißheit der Ausgesetztheit, nicht nur des Fehlens jeder persönlichen Sentimentalität, sondern auch das Abgeschnittensein von den wirklichen Gefühlen, den Erinnerungen, der Freude, Familienvater und Gastgeber gewesen zu sein, drängte sich jetzt in seinem Gedächtnis unangenehm, ja schmerzhaft vor: Das Geben war verloren, es war ein Inbegriff anderer Verluste, die er jetzt gar nicht bedachte. Und es gab eine andere Bewegung, die ihn ergriff (Gemütsbewegung?), eine schützende, bergende, mit der er Claires entzündeten Füßen eine Privatheit schaffen wollte. Natürlich war er auch entsetzt über die furunkulösen Ausblühungen, über ihre Angst, daß ihre Füße niemals mehr in Schuhe passen würden, aber es schien ihm wichtiger, „liebevoller“, den Wunsch nach einem endlich stabilen gemeinsamen Leben in eine bleibende Form zu gießen, als an die Wunden zu denken.