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Und dann kam in der bittersten Kälte dieses Winters die Nachricht von den Glocken. Es schien für alle Einheimischen eine glückliche, eine sensationelle Nachricht zu sein. Und Kornitzer wurde in den Strudel der Freude hineingerissen und ging auch zum Fluß, dort stand schon eine größere Menschenmenge. Er traf auch Herrn Dreis, dem die Tränen in den Augen standen: Daß wir das noch erleben dürfen! Die Glocken kommen. Die Glocken kommen mit einem Schiff. Die Glocken, so hatte es Kornitzer auch am Vortag in der Lokalzeitung gelesen, waren vom Glockenkrieg aus ihren Glockenstühlen gerissen worden. Das klang überaus dramatisch, als wären die Glocken im Dritten Reich eine Art Staatsfeinde geworden. Dabei war nur ihr Material wertvoll und sollte der Kriegswirtschaft zugeführt werden. Und, hieß es weiter, er, der Glockenkrieg, so mußte man es lesen, als hätte dieser Krieg nicht eine halbe Welt in Aufruhr und Erschütterung gestürzt, er, der Glockenkrieg, riß sie aus ihren Glockenstühlen und warf sie wie altes Eisen auf die Glockenfriedhöfe. Was einst seine schönen Harmonien über Berg und Tal, Fluß und Menschensiedlungen schwingen ließ, sollte zum Werk der Zerstörung werden. Der Zusammenbruch des gewalttätigen Staates bewahrte einen Teil der Glocken vor diesem Schicksal.

Aus dem Stadtgebiet waren 195 Glocken beschlagnahmt worden, eine gewaltige Menge, 133 aus katholischen Kirchen, 51 aus evangelischen, 11 sonstige, aus Friedhofskapellen, Wallfahrtskapellen und ähnlichen Orten. In der Liste, schrieb die Zeitung, fehlen jedoch die beschlagnahmten Glocken aus den Stadtteilen Budenheim, Weisenau, Gonsenheim. Die wird man auch noch finden, sprach sich Herr Dreis Mut zu.

Mit zwei Motorschiffen kamen die Glocken am Hafen an, der Schiffer und seine Helfer winkten vom Boot, ein Hund bellte freudig aufgeregt, die Menge winkte, jubelte, es war eine starke Bewegung. Der Schiffer begriff spontan die theatralische Situation. Das helle, nervöse Schiffsbimmeln wie ein Mittagessensglöckchen war ein kleiner Ausgleich für den Verzicht auf das Glockentönen, den die Gläubigen seit Jahren erleiden mußten. Es war ein Symbol, das alle, die fröstelnd am Hafen standen, begriffen. Ein Priester sprach ein Gebet, begrüßte die weit gereisten, heimatlos gewordenen Glocken, so war kein Flüchtling begrüßt worden, es war eine schöne menschliche Geste. Auch das Gebet des Priesters, das Kornitzer natürlich nur ganz vage im Gedächtnis behielt, klang spontan, und es lag ihm gewiß ein Bibelvers zugrunde. Das Herz hing an den Glocken, nicht am Gebet. Sie waren willkommen, sie wurden erwartet und geliebt. Die Glocken gaben Orientierung, auch wenn diese auf vielen anderen Gebieten fehlte. Glocken waren darunter wie die Dreitonklangglocke vom Dom und älteste Glocken wie die von St. Christoph aus dem Jahr 1200. In der ganzen Diözese, beklagte der Artikel in der Lokalzeitung weiter, betrug der Verlust an Kirchenglocken 424 Stück. Von der Verhüttung verschont blieben 105 Glocken. 2.000 gerettete Glocken aus alliiertem Besitz wurden nach Beendigung des Krieges in den Lagern in Hamburg und Lünen gefunden. Sie wurden — soweit möglich — sofort ihren Besitzern zurückgegeben. In mühevoller Kleinarbeit mußten die Glocken identifiziert und in Listen erfaßt werden. Aus den Gießernamen und den Jahreszahlen, aus dem plastischen Schmuck ihrer Inschriften mußten die Heimatgemeinden ermittelt werden, hatte Kornitzer mit Erstaunen gelesen. Nach dem erfreulichen Auftakt an Ostern verließ monatelang regelmäßig ein Schiff mit einer vollen Glockenladung den Hamburger Hafen. Im Sommer wurde jedoch für längere Zeit jeder verfügbare Schiffsraum für Getreidetransporte in das Rheinland beschlagnahmt. Ja, woher die Bestandteile des Brotes kamen, das er aß, das er im Sommer gegessen hatte, daran hatte er nicht gedacht. Nun wußte er es: Das Getreide kam aus Norddeutschland. Und er hatte weitergelesen: Stark behindert wurde der Fortgang des Glockentransportes auch durch die anhaltende Trockenheit. Der fehlende Regen ließ die Pegelstände der Flüsse so stark sinken, daß die Schiffstransporte schließlich bis in den November unmöglich waren. Vielleicht war auch Wichtigeres zu transportieren, dachte sich Kornitzer.

Es war bekümmernswert, als die Glocken konfisziert worden waren, aber darüber konnte man nicht trauern. Und nun waren sie wieder da, kurz vor Weihnachten, um genau zu sein, am 22. Dezember um 13 Uhr, auf den hohen Wellen des Flusses gekommen, vor dem Eis und bevor die Schollen sich übereinanderschoben wie Blätter aus einem Block, die abgerissen worden waren. Ein Schiffer legte die Bohlen aus — vom Schiff auf das trockene Land. Es war so kalt, daß kaum andere Schiffe löschten, zu laden war nichts. Auch die Lagergebäude am Hafen waren stark beschädigt, aber die Schienen der Kräne waren noch da. Auf Pferdefuhrwerken holten die Gemeinden ihre Glocken im Hafen ab. Das war ein schönes Spektakel in der gleißenden Winterkälte. Die Pferdeleiber dampften, die Pferdenasen schnaubten, die Pferdehinterteile äppelten, all das war warm und strahlte in der bitteren Kälte eine Art von gewohnter Sicherheit aus. Kräne, Flaschenzüge waren mit den einfachsten Mitteln in Bewegung gesetzt worden. Es war ein archaisches Bild: Erwartung und Heimkehr.