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Die Kinder sind gefunden worden. Claire telegraphierte sofort ihrem Mann in Mainz, die Kinder, die Kinder sind gefunden worden, die Nachricht versetzte sie in helle Aufregung, eine Sehnsucht, eine Erwartung, etwas Gewaltiges geschah mit ihr, für das sie keinen Namen hatte, es war feierlich und demütig zugleich. Sie schrieb einen Brief an das Rote Kreuz, und jemand in der Molkerei half ihr, einen Brief an Georg und Selma auf Englisch zu schreiben, alles in einer fliegenden Eile. Sie durchforstete das Lexikon, legte Wörterlisten an, home, please, come home, parents, foster parents, tastete nach allen möglichen Fragen, die sie den Kindern stellen wollte. So viele Jahre waren verloren, ausgelöscht, wie häufig hatte sie gegrübelt, ob es „richtig“ gewesen war, die Kinder nach England zu schicken. Sie hatte gehofft, ihrem Mann nach Kuba nachfolgen zu können und dann die Kinder nachkommen zu lassen, alles war ein großes NACH, eine Hoffnung, vielleicht von Kuba in die USA reisen zu können. Für die Kinder wären die englischen Jahre von Vorteil. Aber der Ausbruch des Krieges hatte alle diese Wunschträume zunichte gemacht, Schnee vom vergangenen Jahr. Ihr Mann hatte zu ihr in der Dachkammer in Bettnang über seine Emigration lakonisch gesagt: Ich bin meiner Ermordung zuvorgekommen. Und sie konnte ihm nicht wirklich widersprechen.

Claire reiste nach England, sie achtete nicht auf die Küste, sie sah das Meer nicht wirklich, sie war eine gespannte Sehne, sie wußte selbst nicht, wie sie es (traumwandlerisch?) schaffte, in London umzusteigen, durch die halbe Stadt von einem Bahnhof zum anderen zu finden, sie achtete nicht auf die gewaltigen Rolltreppen, die zu den Bahnsteigen führten, die buntgescheckte Menge, die sich darauf knäulte, die Ungetüme von Gepäckwagen, sie sah nicht den englischen Himmel, einen hellen Blütenblätterhimmel, in den die Baumkronen stachen, nicht die zackigen Bahnen, in denen die Schwalben flogen. Einige sausten pfeilgerade auf das Zugfenster zu und wichen erst im letzten Augenblick aus. Sie sah nicht die bis zum Horizont reichenden Kornfelder mit ihren wehenden Mähnen hinter den kleinen Bahnstationen. Das Licht fiel auf wirkliche Dinge. In Ipswich, das hatte man ihr auf einem Zettel notiert, mußte sie noch einmal umsteigen — in einen Zug mit nur zwei Waggons. Hecken flogen vorbei, Zäune, Rosenbeete auf den Bahnhöfen. Claire war eine exotische Reisende, die nicht wirklich in ein Abteil der British Railway paßte, das war offenkundig. Und sie spürte es, wie sie sonst fast nichts auf dieser Reise spürte. Sie hatte ihre Ankunftszeit angegeben, auf diese Ankunft lief alles hinaus, sie würde die Kinder wiedersehen. Die Ankunft war in ein magisches Licht getaucht.

Da standen sie auf dem Bahnhof wie ein junges Paar, eng aneinandergelehnt, verschmolzen in einer Haltung: Uns kann niemand trennen. Georg hatte ein fein geschnittenes Gesicht, braune Augen und Haare und einen Schatten von Haarflaum über der Oberlippe. Er sah Claire ruhig und abwartend an und nahm ihr Gepäck auf, als würde er einen Sack Hühnerfutter schultern. Und sie dachte: Das ist Georg, mein Sohn, und er sieht mich nicht als seine Mutter, sondern mit meinem Gepäck als ein zu transportierendes Gut. Zuerst kam ihr in den Sinn: Er ist vernünftig, mein Sohn. Vielleicht hat er das von seinem Vater. Und da stand Selma neben ihrem Bruder, feste Beine auf der Erde, rotwangig und kräftig, mit einer schottisch karierten Bluse und aufgekrempelten Ärmeln. Das dunkle Kinderköpfchen, über das Claire so häufig gestreichelt hatte, war heller geworden, aschblond, sie hatte die grünen Augen ihrer Mutter, einen aufgeworfenen Mund mit schönen, regelmäßigen Perlmuttzähnen darin. Claire hatte noch einen Gedanken, bevor sie wirklich kapitulierte: Wie ein Pferd, dachte sie. Oder eher: Wie ein junges Pferd, das auch ausschlagen kann. Und dann wollte sie eigentlich nichts mehr denken und auch ihren Empfindungen nicht mehr vertrauen, sie spürte ihre Erschöpfung nach der langen Reise, die nur das Ziel hatte, hier, hier zu stehen, den Kindern gegenüber.

Vor dem Bahnhof stand der Bauer, Mr. Hales, ein freundlicher Mann mit einem Lächeln und großen Pranken, der sie einfach umarmte, die Frau, die ihre Kinder besuchte, die er und seine Frau adoptieren wollten. Das tat gut. Er sagte nichts, sein Englisch war nicht gefragt, und Claire war ebenso stumm, sprachlos, wörterbuchlos, man konnte nicht blättern und einem Fremden gleichzeitig in die Augen schauen. Es war eine dramatische Situation, die im Bauernhaus milder wurde.

Claire wurde in die Küche geführt, es war ein großer, länglicher Raum mit einer dunklen Holzbalkendecke. Er war beherrscht von einem Tisch mit gedrechselten Beinen — er erinnerte an einen Billardtisch — und einem riesigen Ofen, größer als ein Bett, Claire sah Auslässe mit Gasflammen, aber der größere Teil wurde mit Holz geheizt, ein Schiff, in dem Wasser erhitzt wurde und durch einen Kranen praktischerweise gleich in Kannen und Töpfe gefüllt werden konnte. Der Tisch war mit einer zart geblümten Baumwolldecke gedeckt, Teller aus Steinzeug, über deren Rand Blütenranken lappten. Eine Tür führte in eine Milchkammer, hinter der man das Malmen und Stampfen der Kühe hörte, und man roch sie auch in der Küche. Fette Stubenfliegen kreisten um die Lampe, klopften an die Fensterscheibe und schwirrten in die Wärme zurück. Claire wurde auf ein ausgesessenes Sofa genötigt, ein Kissen wurde ihr überreicht, damit sie am Tisch etwas höher säße. Auf der Wand gegenüber sah sie ein Bild mit Rindvieh auf einer Weide.

Mrs. Hales hatte gekocht, ein Pulk von Halbwüchsigen und jungen Erwachsenen saß da, ihre eigenen Kinder, Knechte und landwirtschaftliche Lehrlinge. Es war ein großer Hof und eher wie ein Gut organisiert, ganz anders als die Höfe über dem Bodensee. Georg und Selma schienen mit allen gut Freund zu sein. Es wurde viel gescherzt, immer prustete einer am Tisch auf vor Lachen, stupste oder lehnte sich herzlich, ja vielleicht übertrieben herzlich gegen einen anderen. Und ein großer Hund legte sich wie ein wollener Teppich zwischen Tisch und Ofen, so daß Mrs. Hales und die Mädchen, die ihr halfen, um ihn herumgehen mußten, wenn sie das Essen auftrugen. Manchmal brummelte der Hund, wollte offenbar etwas zur Unterhaltung beitragen, und dann legte er das Kinn flach auf den Fußboden, in grenzenloser Gemütlichkeit. Die Augen fielen ihm zu. In Bettnang blieben die Dorfhunde im Hof, niemand kam dort auf den Gedanken, den Hund zu einem will-kommenen Familienmitglied zu machen. Vielleicht war das Ganze ein Familientheater, ein in die Zukunft weisendes Adoptivtheater, um ihr, der Deutschen, der fremden Mutter, klarzumachen, hier ist alles in Ordnung, hier geht alles seinen guten Gang. Und nur Sie stören, hauen Sie wieder ab.

Am späteren Abend begriff sie schon, daß nicht nur gegen sie geredet und gehandelt wurde, obwohl sie bequem saß. Sie verstand German bombs, destruction, als wären die Geschwader mit ihrem persönlichen Einverständnis geflogen. Sie verstand den Konflikt: Die Familie hatte kurz nach der letzten Kriegsphase in der Verarmung und Rationierung deutsche Kinder aufgenommen, die sich wie alle Engländer unendlich gefürchtet hatten vor deutschen Angriffen. Alles Deutsche war verhaßt, schädlich, feindlich, gefährlich. Und da Deutschland der Feind war, den man mit aller Kraft zurückschlagen mußte, konnten die deutschen Kinder auch nicht mit übermäßig viel Sympathie rechnen. Daß sie Juden waren, daß sie Feinde des Feindes waren, war ein Spezialwissen, das sich vielleicht in London verbreitet hatte, aber nicht in jedem Winkel von Great Britain. Etwas anderes wäre es gewesen, die Kinder hätten in dem Zusammenhang, indem sie nun einmal lebten, tapfer und energisch gesagt, sie seien Juden, sie wollten nicht zur Kirche gehen und man solle sie mit allem Möglichen in Ruhe lassen. Doch das konnten sie nicht, denn sie waren keine Juden, weil sie sich nicht als solche fühlten. In Wirklichkeit waren sie NICHTS. Aber so waren Kinder nun einmal, sie wollten sich nicht unterscheiden, auch nicht NICHTS sein, aber das war ein schwieriger Gratgang. Nichts war wirklich NICHTS, NICHTS war keine Einladung, eher eine grundsätzliche Abweisung jeglichen Mitgefühls. Wenn sie anders waren, wenn sie sich unterscheiden mußten, schämten sie sich zu Tode. Also lieber genau so sein wie die englischen Kinder, und ohne Akzent und fehlerfrei sprechen. Und nun kam sie, Claire, und rührte eine alte Geschichte auf und wollte die verängstigten, traumatisierten Kinder die ja keine Kinder mehr waren, die sich prächtig entwickelt hatten, so daß es eine Freude war, wenn sie nach der Arbeit auf dem Hof am Tisch aus Walnußholz saßen, nach Deutschland holen.