Georg, der am ruhigsten blieb am Tisch zwischen dem Giggeln und Gackern, den Frotzeleien, zeigte ihr am anderen Tag Zeugnisse, und indem er sie zeigte und indem Mrs. Hales beim Porridge überaus freundlich lächelte, begriff sie: Das waren gute Zeugnisse, auf die Georg stolz war und Mr. und Mrs. Hales auch. Bald würde er seinen Abschluß machen, dann wollte er studieren. Ohne viel Aufhebens davon zu machen, erklärte er das, und Claire verstand seine Gewißheit ohne viele Worte. Sie bedeutete ihm, ob auch Selma, die der Mutter ausgewichen war, etwas zeigen wolle. Georg tat zuerst so, als ob er seine Mutter nicht verstünde, aber dann holte er Selma doch, die mit nackten, schmutzigen Füßen von draußen kam, Füßen, vor denen Claire eigentlich graute (Kuhmist?). Ein Zeigen hin und her, von den Zeugnissen zum Mädchen, vom Bruder zur Schwester, vom Zimmer zur Treppe, knappe Befehle, Bitten, so schien es Claire, und dann hatte wohl Selma endlich begriffen, was der Bruder von ihr wollte, something personal. (Oder mußte er sie überreden, überhaupt irgendetwas der Mutter zu zeigen? Kontakt aufzunehmen?) Sie blieb lange aus und kam verlegen wieder. Was sie in der Hand hatte, waren keine Zeugnisse, sondern etwas Großformatigeres, Aquarelle von Landschaften, Pferdebilder, ländliche Szenerien, und sie zeigte mit einer unschuldigen, aber auch schmutzigen Hand auf sich selbst. Es war taktvoll von Mr. und Mrs. Hales, Claire am späten Abend allein zu lassen, in einem zwar kalten, aber hell erleuchteten Zimmer mit flattrigen Gardinen und einem Fenster, das auf die Weiden schaute, in einer erhabenen ländlichen Ruhe, in der nur Fliegen summten. Ja, das war sehr gut, eine Beruhigung in dem inneren Aufruhr. Aber Selma schrieb spätabends in ihr Tagebuch: It was an immense shock to be confronted with a strange woman and told that she was my mother. I didn’t recognize her at all. Georg and I went to the station to meet her off the train. What on earth had this big fat woman to do with me?! She couldn’t speak a word of English, I couldn’t speak German and I didn’t want to talk with her. She wanted to pull me to her and hug me but I couldn’t bear her touching me. Und das war etwas, was ihre Mutter nie erfahren sollte, aber auf Anhieb spürte.
Tage voller Spannung, voller Mißverständnisse, Tage, die keine Sprache hatten oder immer die falsche. Mr. und Mrs. Hales strahlten die Empfindung aus: Warum kommen Sie erst jetzt? Jetzt sind die Kinder fast erwachsen, und sie sind heimisch hier. Auf diesen wortlosen Vorwurf konnte Claire nicht antworten. Daß sie keine Reiseerlaubnis der französischen Besatzung bekommen hatte, die Kinder auf eigene Faust zu suchen, daß die jüdischen Komitees sich zunächst um diejenigen Kinder kümmerten, die in Heimen lebten und elternlos geworden waren, daß sie auch den leisen Verdacht hatte, ihre Kinder, die nur einen jüdischen Vater hatten und keine jüdische Mutter, würden von den Komitees als Flüchtlinge zweiter Klasse behandelt, was ging das diese freundlichen Leute an? Claire hatte kurz nach dem Kriegsende gelesen, daß die Militärregierung der Britischen Zone, die Control Commission for Germany unter General Brian Robertson, es ganz entschieden abgelehnt hatte, solange das Displaced Persons-Problem nicht gelöst sei, irgendeine Verantwortung für zurückkehrende refugees aufgebürdet zu bekommen. Die Versorgungslage ließe dies nicht zu. Und die Verwaltung in der französischen Zone dachte überhaupt nicht an Rückkehrer, denn aus Frankreich hätten keine Emigranten zurückkommen können. Die Pétain-Regierung hatte in bester Zusammenarbeit mit Hitler-Deutschland seit 1940 den deutschen Flüchtlingen das Leben zur Hölle gemacht, sie in Lager gesperrt oder an Deutschland ausgeliefert, so daß die letzten Flüchtlinge in Schlupflöchern über Marseille oder illegal über die Pyrenäen entkamen. Die Hales konnten auch nicht wissen, was der britische Verleger und Sozialist Victor Gollancz, selbst Jude, 1948 öffentlich erklärt hatte: Die deutsch-jüdischen Flüchtlinge zur Rückkehr nach Deutschland zu zwingen, wäre ein Akt so kaltherziger Grausamkeit, daß sich der gute Name Britanniens und sein stolzer Ruf, das Asyl der Verfolgten zu sein, niemals davon erholen könnten. Die Hales würden es nicht verstehen, auch wenn sie die Sprache verstünden, sie würden es in ihren Gefühlen nicht verstehen. Auf ihre Weise verstanden sie etwas ganz anderes: daß Claire und Richard die Kinder nicht wirklich wollten, sonst hätten sie sich früher um sie bemüht. Aber was war „wirklich“?
Claire versuchte sich nützlich zu machen in der Küche, aber Mrs. Hales winkte ab, sie hatte die Dinge im Griff, die Milchkannen, die Schöpflöffel, die Siebe. Und auch Selma wußte, was zu tun war, die Pferde anzuschirren und auszuschirren, die Hühner zu füttern, die Eier aus den Gelegen zu holen, den Hühnerkot vorsichtig abzureiben, die Eier nach Größen zu ordnen. Claire ging durch die Felder, um nicht wie ein Fremdkörper im Haus zu sitzen. Sie sah Rudel von Fasanen, die vor ihr mit gravitätischem Ernst trippelten, ohne Scheu, sie hätte sie anfassen können. Sie hörte die knarrenden Stimmen der Buchfinken, sah die mageren, winzigen Wildkaninchen, Horden von Kaninchen, die sich um die Fasane nicht scherten und in die Hecken sprangen, darüber feudales Zaunkönigsgelächter. Sie sah weite Weizenfelder, die schweren Kornähren am Halm, fette Wiesen und blühende Böschungen, der Wind schlug hinein, sie ging mit stadtfeinen Schuhen, sie hatte keine anderen, nein, sie gehörte nicht hierher. Als sie zurückkam ins Gutshaus und nach Selma fragte, bedeutete man ihr, sie sei im Pferdestall. Claire betrat den Pferdestall und wußte, sie war da nicht wirklich willkommen, kein Fremder ist in Ställen willkommen, das hatte sie in Bettnang auch gemerkt. Die meiste Arbeit in der Landwirtschaft wurde noch mit Pferden verrichtet, Traktoren waren selten. Da sah sie Selma, wie sie eine große braune Stute umarmte, und die Stute schmiegte sich an. So leidenschaftlich hielt Selma sie umhalst, daß es Claire einen Stich gab, als erwarte ihre Tochter all die Mütterlichkeit, die sie entbehrt hatte, von diesem Arbeitspferd, das schwere Wagen ziehen konnte. Es war erleichternd, daß Selma nicht sah, wie ihre Mutter sie beobachtete. Im oberen Stock fand sie Georg an seinem Tisch sitzen, vor sich hatte er mehrere kleine Kästchen mit Schrauben und Metallschienen, er hantierte mit einer Metallsäge und feinen Schraubenziehern, griff rasch und gezielt in die Schraubenhäufchen, sah kurz auf und nickte ihr zu, als er spürte, jemand war in die offene Tür getreten, dann arbeitete er weiter.
Claires Abreise war leis, klamm, es war ihr, als ginge ein Aufatmen durch das große Haus. Als schnaubten die Kühe, als scharrten die Pferde. „Unverrichteter Dinge“, dieser Begriff kam ihr in ihren leeren, traurigen Kopf, nein, „unverrichteter Menschen“ konnte man nicht sagen, über sie und über ihren Mann war gerichtet worden, und anders als bei einem wirklichen Prozeß hatten sie keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Claire reiste nach Mainz, ohne links und rechts zu sehen, kam sie im Landgericht an, fragte sich durch, und da war sie: in der Geschäftsstelle der Zivilkammer, in der ihr Mann gerade etwas diktierte. Es war nicht sehr tröstlich, ihm von der fehlgeschlagenen Reise zu erzählen. Er kaute, um seine Erregung zu verbergen, an seinem inneren Backenfleisch. Ein Bote kam und brachte ein Schriftstück, das er umständlich von einem Wagen holte, aus den Augenwinkeln beobachtete er die Frau, die nicht in das Gericht gehörte. Er glotzte so begierig, als erwarte er, daß der Landgerichts rat, ihm, dem Justizangestellten, die Frau, die zu einem offenbar ganz unpassenden Zeitpunkt hineingeschneit war, vorstellte. Das Telephon klingelte nebenbei. Schließlich führte Richard seine Frau in ein Café in der Nähe des Domes, als sie dort hemmungslos zu schluchzen begann, zahlte er rasch und herrenhaft an der Theke, ging mit ihr zur Rheinpromenade, ging auf und ab mit ihr, sie schien auch den Fluß nicht wirklich zu sehen, sie ging mit trippelnden Schritten, er führte sie fast, während sie stockend berichtete.