Выбрать главу

Mr. und Mrs. Hales versuchten nach Claires Abreise, Georg und Selma klarzumachen, daß sie natürlich weiter bei ihnen leben könnten, gleichgültig, ob sie adoptiert werden könnten oder nicht. Nichts würde sich ändern, und es wäre vollkommen unsinnig, wenn Georg, studying for a scholarship in Cambridge, so kurz vor dem Abschluß nach Deutschland ginge, und wohin, bitte schön? Zu seinem Vater, zu seiner Mutter? Daß die Eltern nicht zusammenlebten wie die Hales, wie eine normale Familie, das hätten die Kinder doch verstanden. Das beruhigte — ein wenig, und auch das Landleben, die Ernte, die Pflichten, die beide in Haus und Stall hatten, beruhigten. Bis ein Brief aus Mainz kam, mit einem Gerichtsbeschluß, daß das Ehepaar Hales Selma unverzüglich nach Mainz bringen mußte. I refuse to go, sagte Selma, aber Mrs. Hales erklärte ihr, daß es keine Chance gebe, solange sie minderjährig sei, daß ihre Eltern wenigstens so vernünftig gewesen seien zu begreifen, daß Georg, den sie von Anfang an George genannt hatten, seine Schule in England beenden müsse. Ich reise mit dir, versprach Mrs. Hales Selma. Das machte die Sache nicht besser: Mrs. und Mr. Hales hatten versprochen, nichts ändere sich, adoptiert oder nicht, jetzt kämpften sie nicht, sondern fügten sich, resignierten. Es war wie ein riesiger Betrug, ein gewaltiger Aufruhr, in den Selma sich gestürzt fühlte. Sie war zornig und eifersüchtig auf ihren Bruder, auf sein Privileg. Nur weil er älter war, durfte er bleiben. Und er, der die wichtigste Person in ihrem Leben geworden war, konnte ihr nicht helfen. Im Gegenteiclass="underline" Er entfernte sich, während sie ihn verlassen mußte.

Es war eine unendlich lange Reise, so kam es Selma vor. Mrs. Hales tat alles Mögliche, um sie aufzuheitern, aber sie starrte finster in sich hinein. Schon der Beginn war demütigend genug gewesen. Mrs. Hales konnte Selma nicht einfach auf ihren Paß eintragen lassen, wie wenn sie sie hätte adoptieren können. Selma brauchte einen eigenen Paß, ein travelling paper. Nach vielem Hin und Her stellte das Jewish Refugee Committee Selma ein ellenlanges Papier aus: Person of No Nationality stand in großen Buchstaben darüber, Visastempel verzierten es. Das Papier war so exotisch, daß die Grenzer am Hoek van Holland es hin und her wendeten, staatenlose Leute reisten nicht, hatten irgendwo in dem ihnen angewiesenen Winkel zu sitzen, bis sich die Verhältnisse wieder änderten. Aber das Kriegsende hatte die Verhältnisse noch einmal geändert, und die ordentlichen Grenzbeamten mit Mütze und Achselklappen hatten die Bedingungen nicht wirklich mitbekommen. Sie schalteten ihre Vorgesetzten ein, das dauerte, die Vorgesetzten trugen Verantwortung, auch das Tragen von Verantwortung dauert, es muß dokumentiert werden. All das hatte zur Folge, daß Mrs. Hales und Selma den Anschlußzug verpaßten. Sie saßen im Hafen fest, konnten sich nicht bewegen, weil Selmas Dokument nicht wirklich galt, und erst als der nächste Schwung von Passagieren kam, winkte man sie durch. Selmas Behelfsausweis wurde wieder kritisch beäugt an der holländischen Grenze, und die deutschen Beamten schienen auch noch nie ein solches Papier gesehen zu haben. Selma fiel auf, daß die deutschen Züge im Gegensatz zu den englischen, die gepolstert waren, Holzbänke hatten, die aus schmalen Latten bestanden. Es kam ihr vor, als würde ihr ganzes Sitzfleisch gestreift von den harten Latten, alles wollte sich empören.

Die Ankunft in Mainz war ein Schock, die Halle wie eine Muschelschale, ein Spinnennetz, aber zwischen den Rippen fehlte das Glas. Richard und Claire waren an den Bahnhof gekommen und holten Mrs. Hales und Selma ab. Selma wunderte sich, daß ihr Vater ein ausgezeichnetes Englisch sprach, aber sich dennoch schwer mit Mrs. Hales verständigen konnte. Er wählte zu lange Wörter, bildete zu lange Sätze, sprach wie ein Lesebuch. Und ihm gelangen nur verstohlene Seitenblicke auf dieses Mädchen, das stampfend neben ihm ging, mit verschlossenem Gesicht, sich im Taxi eng an Mrs. Hales lehnte, um möglichst nicht an ihre Mutter zu stoßen.

In Mombach übernahm, als Kornitzer bekundet hatte, seine Frau und seine Tochter und deren Pflegemutter aus England kämen zu Besuch, die alte Frau Dreis die Regie. Sie hatte ihm das Wohnzimmer zur Verfügung gestellt, damit die Gesellschaft nicht in seinem Dachzimmer zusammengepfercht sitzen müßte, sie hatte den Tisch gedeckt und einen Käsekuchen gebacken, den Selma mißtrauisch ansah — offenbar hatte sie noch keinen Kuchen dieser Art gesehen und probiert —, und dann nach einem Zögern stopfte sie ihn doch planlos in sich hinein. Wie viel sie essen konnte, fiel Kornitzer auf. Die Nahrungsaufnahme war eine Erleichterung, löste die Spannung, und alle am Tisch aßen, und das verband sie, wie löchrig sonst das Einvernehmen untereinander auch war. Kornitzer war für die Überlassung des Eßtisches und für diesen Käsekuchen unendlich dankbar. Er hatte, als er begriff, wie schwierig die Reise sein würde für eine staatenlose Minderjährige in Begleitung einer Engländerin, mit der sie nicht verwandt war, sofort fürsorglich Selmas Einbürgerung in Deutschland veranlaßt. Aus eigener Erfahrung wußte er ja, daß dies nur ein formeller Akt war. Er hatte ihn erfreut zur Kenntnis genommen. Ihm hatte dieser Akt den Weg in seine geregelte Berufstätigkeit gebahnt, also wäre er für Selma auch von Vorteil, glaubte er.

Irgendwann kam die junge Frau Dreis polternd die Treppe hinunter und nahm mit einem einzigen Blick die beklommene Gesellschaft im Wohnzimmer in Augenschein. Ihre hohen, unangemessen arroganten Augenbrauen schoben sich noch ein Stück höher. Glücklicherweise, das mußte Kornitzer denken, und er schämte sich fast, so zu denken, tauchte Evamaria nicht auf. Und indem er an das kleine Mädchen dachte, empfand er, um wieviel besser er in ein paar Wochen die kleine Hausbewohnerin verstand als seine eigene in die Höhe und Breite geschossene Tochter. Ja, sie war ein großes, kräftiges Mädchen, sie hatte Claires grüne Augen, aber sie hatte einen Widerstand, eine Angst im Gesicht, als lauere im Garten und in der Nachbargasse und auch im Kirchturm ein Werwolfgeschwader. Seine Tochter tat Kornitzer auch leid.

Kornitzer hatte ein Hotelzimmer unten in der Nähe des Bahnhofs für Claire und Selma reservieren lassen, nicht in dem Bunkerhotel, das wollte er Selma nicht zumuten, sondern ein altmodisches Haus, das teuer war, aber darauf kam es jetzt nicht an. Mrs. Hales wollte schon am Abend abreisen, so war es ausgemacht. Sie wollte Mainz (oder was davon übriggeblieben war) nicht sehen. Die ganze Gesellschaft brach zur Tramhaltestelle auf, und als die Tram kam, erstarrte Selma. Sie hatte noch nie ein solches Ungetüm gesehen. Kornitzer bemerkte, wie sie zitterte, als die Tram in Fahrt kam und den Berg hinunterkurvte, auf dem der höhere Teil Mombachs lag. Sich an einer Stange festzuhalten, zu vermeiden, an einen anderen Menschen zu stoßen, all das schien eine große Anstrengung für sie zu sein. Ja, man hätte sie einfach umarmen müssen, aber sie gegen ihren Willen zu umarmen, war bei einem so großen Mädchen auch ein Übergriff. Dann stand man auf dem Bahnsteig herum, peinigende zehn Minuten, der Zug hatte Verspätung, und es war eine Erleichterung, als er unter die stählernen Rippen kroch, die von der Hallenüberdachung übriggeblieben waren. Kornitzer dankte in fein ausgesuchten Worten Mrs. Hales für alles, was sie für Georg und Selma getan hatte, seine Worte schienen wie Wasser an ihr abzuperlen. Sie legte den Kopf schief auf den Mantelkragen und nickte kurz. Und Claire und Richard verstanden nicht wirklich, was Mrs. Hales Selma zum Abschied sagte, es war ein Flüstern, ein Räuspern, eine Tröstung, eine vielleicht magische Beschwörung der Vertrautheit. Aber Selma wirkte wie gelähmt.