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Als der Zug abgefahren war, machte Kornitzer seiner Tochter Vorhaltungen, daß sie Mrs. Hales nicht dafür gedankt hatte, mit ihr nach Deutschland gereist zu sein. Darüber war Selma empört. Gegen ihren Willen war sie nach Mainz gebracht worden, von ihrem Bruder, den Hales-Kindern, den Tieren getrennt worden, und dafür sollte sie dankbar sein? Es war wie ein zweiter Kindertransport. Nur daß sie jetzt fast erwachsen war, zum zweiten Mal hatte sie die vertraute Umgebung verlassen müssen, zum zweiten Mal hatte sie es mit einer fremden Sprache zu tun, eine unendliche Kette von Anpassungsleistungen wurde von ihr erwartet. Am liebsten wäre sie weggelaufen, aber wohin?

Anderntags holt Kornitzer seine Frau und seine Tochter ab, wieder ein Café, wieder ein Gang zum Rhein, zu den Schiffen, als könne der mächtige Strom die schwierige Situation befrieden, alles fließt, viel Wasser den Rhein hinunter, ein Schiff tutet, die flachen Lastkähne, die Kohlen geladen haben, schippern Richtung Köln, Wäsche flattert auf dem Deck, der Vormittag stößt auf den Nachmittag, dazwischen viel freie Luft, das Hämmern auf einem Dachstuhl in der Nähe der Uferpromenade, plötzlich sieht Kornitzer den gußeisernen Schnörkel am Fuß einer Gartenbank, die Holzbretter darüber sind abmontiert worden, dann ist es Zeit aufzubrechen. Es schmerzt Kornitzer, daß er seiner Frau, seiner Tochter kein Heim bieten kann. Ein Zimmer mit zwei Sesseln, in dem er leise im Schein einer Lampe mit Claire über die wiedergefundene Tochter sprechen könnte und ein Zimmer für Selma, ein geblümtes, mildes Zimmer mit hellen, milchigen Gardinen, in dem sie sich wie in einem Schneckenhaus zurückziehen und langsam, langsam die Fühler ausstrecken und sich an Deutschland gewöhnen könnte, und langsam, langsam taute sie aus ihrer Erstarrung auf. Das ist sein Wunsch. Während sie zum Hotel gehen, um Selmas Gepäck zu holen, große Traurigkeit, Resignation, und das ist erst der Anfang. Auf dem Bahnsteig sagt er zu Selma in seinem gepflegten Englisch: Be good and don’t make trouble for your mother — she is not very well. Die Tochter sieht aus, als ob sie sich ekle. Da muß er sich abwenden, und seine Umarmung mit Claire ist heftig und impulsiv, die Sorge um die schwierige Tochter verbindet sie.

Am Abend schrieb er einen Brief an Georg, einen grundsätzlichen Vaterbrief, wie Väter ihn nur selten schreiben, einen Brief, in dem er Georg, wie weit sie auch entfernt waren, seiner Liebe versicherte. Er fragte ihn nach seinen Plänen und erzählte ein wenig von seiner Tätigkeit. Das gewerbliche Recht war ein Balanceakt, für streitende Parteien waren Lösungen zu finden, Patente waren zu prüfen und rechtlich durchzusetzen, meine Materie, schrieb er, die für einen Siebzehnjährigen vielleicht vollkommen uninteressant sei. Er erzählte ihm auch von Claire, vom schönen Dorf über dem Bodensee, den weiten Blicken, den netten Söhnen der Pfempfles, die Selma sicher gut aufnähmen. Er hoffte, daß sein Brief eine Verlockung war, nicht nur Selma nicht allein zu lassen in der neuen Erfahrung, auch eine Bitte, den Eltern endlich eine neue Erfahrung mit ihren Kindern zuzugestehen. Es war ein Brief, der Georg ganz zugewandt war, ein Brief wie er, Richard Kornitzer, ihn gerne als Sohn bekommen hätte. Doch sein Vater war im Ersten Weltkrieg gefallen. Er war eine Ikone des Heldentums, ein Jude, der dem deutschen Kaiser auch sein Judentum geopfert hatte und danach sein Leben. Da war Kornitzer zwölf Jahre alt. Mit anderen Worten: Er hatte einen Kindervater in Erinnerung, aber niemanden, der ihm half, ins erwachsene Leben zu gehen. Und nun, da Georg bald erwachsen war, wollte er ihm so gern zur Seite stehen. Er würde alle Fragen der Welt, so sorgsam wie er nur konnte, beantworten. Vor allem die Frage: Warum? Aber Georg stellte keine Fragen.

In Bettnang waren die Egerländer Flüchtlinge aus dem Haus der Pfempfles ausgezogen, sie hatten sich mit eigenen Händen ein spielzeugkleines Haus im Nachbardorf gebaut und eine geschnitzte Jahreszahl über dem Giebel angebracht. Ob sie das winzige Haus auch mit Schuhwichsdosen vollgestopft hatten wie das Treppenhaus bei Pfempfles, wußte in Bettnang niemand. Aber eine der Frauen war eine nette Verkäuferin in einem Schuhgeschäft in Lindau geworden, und so ging alles seinen vernünftigen Gang. Jetzt war Platz im Haus der Pfempfles, und Selma konnte ein eigenes Zimmer mit einem hölzernen Bett beziehen, das ein riesiges Kopfteil hatte. Den ersten Tag verschlief sie vollkommen. Als Selma aufwachte, saß ihre Mutter mit einem Englisch-Lehrbuch an ihrem Bett. Selma schloß die Augen wieder, als könnte sie im Schlaf wieder nach England zurückfinden.

Sie sollte wieder Deutsch lernen, und ihre Mutter wollte Englisch lernen. Es war ein mühsames Unterfangen der Anpassung, die Tage dehnten sich. Selma wollte nicht in Bettnang sein, es war das falsche Dorf, sie wollte nicht bei Claire sein, und Mrs. Hales hatte sie betrogen. Donnerschläge von Angst und Erbitterung, die sich auf ihrem Gesicht spiegelten, auch wenn sie sich hinter den fransigen Haaren versteckte. Sie malte sich aus, sie würde losrennen, weiter und weiter, Tag für Tag, sie bettelte bei Bauern um Essen, sie würde auch ihre Dienste anbieten, sie konnte ja Pferde anschirren und ausschirren, sie konnte melken, auch Schafe scheren, und sie hatte im Frühjahr schon beim Lammen geholfen. Das war ein Vertrauensbeweis, dessen Mr. Hales sie für würdig empfunden hatte. Bis zur Küste würde sie sich durchschlagen und dann auf ein Schiff nach England. Tagträume vom Verschwinden. An einem seidigen Spätsommertag war Selma tatsächlich verschwunden. Jemand hatte sie zuletzt in der Apfelplantage gesehen. Es wurde dunkel, Selma kam nicht, es wurde Nacht, Selma kam nicht, Claire verging vor Angst um ihre Tochter, Selma kam nicht, die Pfempfles halfen am anderen Tag beim Suchen, aber es fand sich keine Spur von ihr. Claire fürchtete sich, die Polizei einzuschalten, sie fürchtete, das Jugendamt schaltete sich nach einer Vermißtenmeldung ein, sie fürchtete sich, man werfe ihr eine Verletzung der Aufsichtspflicht vor, sie fürchtete, man sperre Selma in ein Erziehungsheim. Es war eine Hölle für Claire, in die sie gestürzt war, eine Hölle aus Konflikten. Ja, Selma war ein schwer erziehbares Mädchen, so mußte man das nennen. Nach vierundzwanzig Stunden trottete sie den Berg von Lindau aus hoch. Und alle Fragen, wo um Himmels willen sie gewesen war, wohin sie gewollt hatte, schüttelte sie ab wie eine kalte Dusche. Nur eine Frage beantwortete sie gnädig, wo sie geschlafen habe. In einer Scheune.

Sie aß nicht, was ihre Mutter kochte, kroch ins Bett und stellte sich schlafend. Kam sie die Treppe herunter mit abwesendem Gesichtsausdruck, war sie unfreundlich zu den Pfempfles. Auch von ihnen erwartete sie nichts Gutes. Kornitzer, der von Claire unterrichtet worden war, wie unwillig sich Selma jeder Bemühung zur Eingewöhnung entgegenstellte, kam, so oft er konnte, für ein Wochenende nach Bettnang. Er brachte Geschenke mit, Süßigkeiten, Schallplatten, und redete ihr gut zu, sich besser zu betragen. Und sie dachte, sie sei absichtlich böse, und das eigene Bösesein, in dem sie sich selbst nicht leiden konnte, machte sie unglücklich. Sie hörte ihre Eltern streiten, und sie wußte instinktiv, sie stritten sich ihretwegen.