In dem Haus seien die meiste Zeit über keine Erwachsenen gewesen. Die Kinder waren sich selbst überlassen. (Später begriffen Georg und Selma, daß viele Erwachsene bei der Army gebraucht wurden und daß auch die Munitionsfabriken einen großen Bedarf an Arbeitskräften hatten.) Es kam Selma im nachhinein vor, als habe es in dem Heim nie regelmäßige Mahlzeiten gegeben, häufig war sie hungrig. Die älteren Mädchen ermunterten die jüngeren Kinder, sich in der Küche selbst zu versorgen, dabei schnitten sie sich, verbrannten sich die Finger. Das Beste war noch, wenn man sich mit den Resten des Babybreis vollstopfte, denn niemand wußte, wann es wieder Essen gab. Aus Langeweile oder aus Abenteuerlust begannen die Kinder zu streunen und in kleinen Horden in Richmond herumzuziehen.
Kornitzer fragte seine Tochter, ob sie denn auch in Kew Gardens gewesen seien, ob sie die gewaltigen Glashäuser mit Palmen, Springbrunnen, Orchideen und schreienden Papageien gesehen hätte. Das war das Beste, das er von seinem London-Besuch in Erinnerung behalten hatte. Allein deswegen habe es sich gelohnt, in Richmond gestrandet zu sein. Kew Gardens hatten die Kinder nicht gesehen, aber der Botanische Garten war ein Stichwort. Selma erinnerte sich, daß sie in Berlin unbändig gerne in den Zoologischen Garten gegangen war, um die Schimpansen und die Schildkröten zu betrachten. Als ihre Mutter sie und Georg zum Kindertransport an den Bahnhof Zoo brachte, hatte sie einen Wutanfall. Sie erkannte den Zoo-Eingang, warf sich zu Boden, sie wollte in den Zoo und keinesfalls auf den Bahnhof. Sie war „unartig“. Und später glaubte sie, es sei eine Strafe gewesen, die Tiere nicht mehr sehen zu dürfen, sondern auf schnödeste Weise in einen Zug verfrachtet worden zu sein, ohne Rücksicht auf ihr Betteln. Die Strafe schien ihr ungeheuerlich hart, aber es gab keinen Gerichtshof, um sie zu revidieren. So hatte sie zehn Jahre lang die Beschämung mit sich herumgetragen, „böse“ gewesen und zur Bestrafung weggeschickt worden zu sein, weit weg. Und der Beschämung, „böse“ gewesen zu sein, folgte die Trauer. Georg, an den sie sich klammerte, hatte besser verstanden, warum die Eltern die Kinder nach England reisen ließen. Er sah den Funken von Zuversicht in dieser Planung, während die kleine Selma vollkommen im Dunklen tappte und auf den Bruder angewiesen war. Ja, für Selma (als sie die Katastrophe verstand) schien es besser, in einem Lager vernichtet worden zu sein als zu überleben. Sie schien sich der Rettung nicht würdig genug zu erweisen. Sie war böse, und dieses Selbstbild kränkte sie zusätzlich. Es war eine Spirale von Schuld. Und der Gedanke, daß ihre Tochter (und vielleicht auch der Sohn) heimlich die eigene Vernichtung gewünscht hätten, die nicht stattgefunden hatte, brachte die Eltern, als Selma stockend erzählte, zur Verzweiflung.
Auf den Streifzügen kamen die Kinder an das Themse-Ufer, planschten und schwammen. Das Wasser war trüb und hatte Schwebestoffe, aber es machte ihnen einen Riesenspaß. Niemand wies sie darauf hin, daß ihnen das verunreinigte Wasser gefährlich werden könnte. Sie besaßen auch keine Handtücher, stiegen naß in ihre Kleider. Wenn sie im Heim ankamen, waren sie getrocknet und starrten vor Schmutz. Prompt bekam Georg hohes Fieber, seine Haut wurde gelb, es war eine Hepatitis. Selma flehte die großen Mädchen an, einen Arzt zu holen, aber sie blieben unbeeindruckt, sie waren robust und wild, menschliche Schlingpflanzen, und kannten vermutlich keinen Arzt. Selma saß an Georgs Bett, las ihm, damit er nicht wegdämmerte, dieselben Geschichten vor, die er ihr früher vorgelesen hatte. Ja, sie hatte Angst, er würde vor ihren Augen sterben, denn er delirierte. Sie wußte sich nicht anders zu helfen, als seine heiße Stirn mit einem feuchten Lappen zu kühlen. Das tat ihm offensichtlich gut. Irgendwann kratzte Georg sein aufgeschnapptes Wissen zusammen und sagte: An apple a day keeps the doctor away. Für Selma war dieser Satz eine Offenbarung. Sie suchte in der Küche nach Äpfeln, es gab keine. Sie lief in die Geschäftsstraßen von Richmond, betrat Obstgeschäfte. Ja, es gab Äpfel, aber sie kosteten natürlich eine Stange Geld. Da entschloß sich Selma, ihren einzigen nennenswerten Besitz, ihre Puppe, mitzunehmen. Sie sprach Frauen mit kleinen Kindern an, ob sie ihre Puppe kaufen wollten, sie habe einen kranken Bruder, für den brauche sie Geld. Und wirklich, ein Kind faßte sofort nach der Puppe, und die Frau kaufte sie ihr ab. Selma schleppte die Äpfel ins Heim, versteckte sie, damit andere Kinder sie nicht naschten. Georg war so schwach, daß sie gar nicht wußte, ob er überhaupt einen Apfel halten und hineinbeißen konnte. Aber er aß die Äpfel nach und nach, langsam kaute er und schluckte. Es gab keinen Beweis, daß die Äpfel etwas bewirkten. Aber Selma hatte die Gewißheit, daß er unbedingt gesund werden wollte. Georg glaubte an die Äpfel, und Selma war stolz, daß sie ihrem großen Bruder glauben konnte. Es dauerte lange, bis er wieder auf die Beine kam, er war noch schwach, und er war äußerst hellhörig während der Krankheit geworden. Das dauernde Geschrei der kleinen Kinder drang ihm durch Mark und Bein.
In dieses Kinderchaos platzt Mrs. Bosomworth wie eine gütige Göttin. Sie ist eine Frau jenseits der fünfzig mit einem fülligen Körper und grauen Löckchen. Ihre Wangen sind rosa, und sie verfärben sich leicht ins Himbeerfarbene, wenn sie sich erregt. Und sie erregt sich sofort, als die Kinder ihr von den Läusen und ihrer Bekämpfung erzählen. Sie erregt sich weiterhin über den starrenden Schmutz und über den Mangel an Aufsicht, über das fahrlässige Behagen, mit dem die großen Mädchen „Mutter“ spielen. Aus Sympathie mit den jüngeren Kindern blendet sie die vollkommene Überforderung der größeren aus. Sie erregt sich auch über die Maßen, daß niemand Georg in seiner schweren Krankheit beigestanden hat, ja, sie kann es kaum fassen und lobt Selma, daß sie alles richtig gemacht hat, was Selma freut, als wäre sie in dieser Zeit eine kleine Doktorin gewesen. Sorgsam fragt sie und nimmt sich viel Zeit, und aus Georg und Selma tropfen die Beschämungen im Pfarrhaus und die Dürftigkeiten des Heims. Sie fragt nach Deutschland, nach den Erinnerungen an Berlin, noch nie hat jemand sich so intensiv mit ihnen beschäftigt. Die Reserviertheit der Kinder schmilzt, Selma liebt Mrs. Bosomworth sofort. (Es ist wie ein automatisches Sehnen, das ein Ziel hat und sich gleichzeitig weitersehnt, in ein Zentrum hinein. Sie sieht das Rosafarbene, das Himbeerfarbene, ihr himmelblaues Lächeln und die Fältchen um ihre Augen, zwischen denen sie sich ganz, ja himmlisch geborgen fühlt.) Und dann fragt Mrs. Bosomworth die beiden, ob sie mitkommen und bei ihr bleiben wollen. Es folgt ein sprachloses Nicken über so viel unerwartete, beschämend großzügige Zuwendung. Die drei reisen nach Kent, Mrs. Bosomworth nimmt sie einfach mit ohne viel Aufhebens. Unterwegs mit den roten Bussen in London sehen sie die frischen Zerstörungen, Wunden in der glanzvollen Stadt, aber Mrs. Bosomworth verspricht ihnen, dort, wo sie hinführen, gäbe es keine deutschen Bomben, es sei friedlich und schön auf dem Land, und so bliebe es auch, sie brauchten keine Angst zu haben. Es ist eine sanfte, fröhliche Reise, Mrs. Bosomworth hat an Verpflegung gedacht, Obst und Würste, Eier, die sie gemeinsam pellen, die Schalen werfen sie aus dem Fenster hinaus in die Landschaft, da fliegen sie. Wiesenteppiche breiten sich aus, Baumreihen schnurren am Zugfenster entlang, bürsten den Himmel, sie sehen die milden Hügelchen. Mrs. Bosomworth erzählt, daß sie selbst fünf Kinder hat, darunter einen Jungen in Georgs Alter und ein Mädchen in Selmas Alter, es klingt wie im Märchen, und Mrs. Bosomworth ist von einer Wolke herabgestiegen und im Hostel for Displaced Children gelandet. (Daß die Quäker-Organisation, der Kornitzer und Claire die Kinder anvertraut hatten, in der Zwischenzeit lebhaft tätig war, um Mrs. Bosomworth als neue Pflegemutter auszusuchen, mußten sie sich bei Selmas Schilderung dazudenken.) Und das Märchen geht weiter. Seite für Seite blättert es Selma auf, Mr. Bosomworth, der sie herzlich begrüßt, ein ruhiger, starker Mann, der gewaltige Körbe mit Zwiebeln und Säcke mit Futter schultert, zwei große Töchter und John, der in seinem Zimmer Georg aufnimmt, und Frances, die für Selma Platz macht, und der kleine Guy, der erst sechs ist, alle sitzen sie am Tisch und sind fröhlich. Im Pfarrhaus hatten die Kinder werktags mit der Schwägerin des Reverend im Schulsaal gegessen, während der Reverend und seine Frau geruhsam im Eßzimmer speisten. Nur sonn- und feiertags gab es ein gemeinsames Essensritual.