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Jetzt aus der Vergangenheit kommt Selma die große weitherzige Familie Bosomworth wie aus dem Bilderbuch vor, und sie selbst ist ein Teil dieses Bilderbuches, Darstellerin und Betrachterin zugleich, und sie ist stolz darauf. Die Bosomworth-Kinder sagen alle „danke“ und „bitte“, wenn die Platten und Schüsseln herumgereicht werden, ihre Mutter hält sie dazu an, nicht mit vollem Mund zu sprechen, und wenn sie etwas wissen wollen, wird es ihnen sorgsam erklärt. Die Bosomworth-Kinder sagen Mummy und Daddy zu ihren Eltern, und das hätten Georg und Selma am liebsten auch gleich getan. Aber Mrs. Bosomworth nimmt sich wieder Zeit für sie und weist sie darauf hin, daß sie doch Eltern haben, und daß es diesen Eltern sicher nicht recht sei, wenn sie eine andere Frau Mummy nennen. Sie schlägt Georg und Selma vor, sie könnten sie Auntie nennen, das wäre auch eine Vertrautheit. Aber das wollte Selma nicht, die Schwägerin des Reverend hatte ihr auch die Anrede Auntie angeboten, aber sie war keineswegs eine vertraute Gestalt geworden. Auntie wollten die Kinder in Erinnerung an die harte Zeit im Pfarrhaus niemals mehr jemanden nennen, man hätte sie dazu prügeln müssen, und das war nicht der Stil der Bosomworths. So blieb es formell bei der Anrede Mrs. and Mr. Bosomworth, was einen Schatten auf die Beziehung warf, aber auch Klarheit schaffte. Es mußte in Kuba einen Daddy geben, der zurückkäme, und es müßte irgendwo in Deutschland eine sehr verborgene, aber liebe Mummy geben, die mit den Flugzeugen und den Zerstörungen nichts zu tun habe (eben das glaubte Selma nicht), und irgendwann nach dem Krieg sähen die Kinder sie wieder, und die Eltern wären glücklich und sie auch, sagten Mr. und Mrs. Bosomworth den Kindern. (Kornitzer zuckte bei diesem Teil der Erzählung ein wenig zusammen.)

Die lebhafte Frances und die eher schwerfälllige Selma teilen nicht nur ein Zimmer miteinander, sie haben Geheimnisse vor den anderen, tauchen in eine Welt des Tuschelns und Giggelns. Mit einem Gummiband knoten sie sich die Beine zusammen, dreibeinig hüpfen sie durch die Gegend, dreibeinig sind sie glücklich. Georg traf es nicht so gut mit John, sie waren sehr verschieden und gingen sich gegenseitig häufig auf die Nerven. Wie die Bosomworths nicht wollten, daß sich Selma und Georg allzu sehr auf sie bezogen, fanden sie auch auf einem ganz anderen Gebiet einen guten Rat. Sie hielten Kaninchen, und die Kinder fütterten sie täglich mit allen möglichen Resten. Es war den Kindern aber gleichzeitig streng verboten, mit den Kaninchen zu schmusen und sie herumzutragen wie Puppen. Von Anfang an war klar: Die Kaninchen sind Schlachttiere, wir haben wegen des Krieges wenig Fleisch, und jede Sentimentalität ist unangebracht. Das war sehr vernünftig, und die Kinder wußten, je mehr Kräuter und Essensabfälle sie den Kaninchen brachten, um so besser würde ihr Fleisch.

Zwei Wochen der Schulferien verbrachte die ganze Familie jeweils bei den Großeltern in Cornwall, das erzählte Frances Selma, und Selma freute sich schon sehnsüchtigst auf die Ferien. Doch dann hieß es, das Haus der Großeltern sei zu klein für sieben Kinder. Das war eine große Enttäuschung. Georg verbrachte die Ferien in einem Boys Camp und Selma in einem Hostel für kleinere Kinder. Es war eine schöne Zeit, aber als sie wieder bei den Bosomworths war, wurde sie traurig und lethargisch. Nie würde sie „wirklich“ zur Familie gehören, es blieb eine Distanz, die unüberwindlich war. Etwas an ihr war falsch. Sie bemühte sich so sehr, Mrs. Bosomworth zu gefallen, las ihr die Wünsche von den Augen ab und half im Haus, wo sie konnte. Aber das war es nicht, was ihr half. Monatelang schleppte sie diese Traurigkeit mit sich herum.

Dann, im Herbst 1944, kamen die Raketen, sie kamen aus Peenemünde und zielten auf London. Kent oder besser: das Haus der Bosomworths lag direkt auf ihrer Einflugschneise. Stürzten sie ab, ging ihnen der Treibstoff aus, verursachten sie riesige Brände. Die Warnsirenen ertönten, die V2 kamen meistens nachts, zischten über das Haus hinweg und zogen einen feurigen Schweif hinter sich her. (Daß sie Vergeltungswaffen genannt wurden, hatte Claire raunen gehört in Friedrichshafen, wo man große Waffen gebaut hatte im Gegensatz zu den kleinen, wendigen in Peenemünde. Vergeltung, weil England sich wehrte gegen die deutschen Angriffe, Zahn um Zahn, Auge um Auge.) In der Nähe des Hauses der Bosomworths war eine Flugabwehr installiert worden. Traf sie eine Rakete und geriet diese ins Trudeln, konnte man nur hoffen und beten, daß sie auf dem freien Feld aufschlüge und nicht in einem Hausdach. Bäume, in denen sich die Raketen verfingen, blieben als schwarze, verkohlte Finger in der Landschaft. Mrs. Bosomworth hatte nicht recht behalten, daß in Kent keine Bomben fielen. Die Kinder, die die wirkliche Gefahr nicht einschätzen konnten, rückten näher zusammen. Nur Georg sonderte sich ab, sprach kaum mehr und wurde seltsam. Stundenlang saß er im Zimmer und bastelte mit Blech, Drähten und Chemikalien. Die anderen zogen ihn auf, daß er Angst vor den Raketen hatte, und das machte alles noch schlimmer. Für die kleineren Kinder Frances, Selma und Guy waren die Raketen einfach ein Abenteuer, die Gefahr konnten sie nicht einschätzen. Aber Georg begann schon beim Heulen der Sirenen zu zittern, und manchmal schien es, als schnappe er einfach über. Er bastelte sich ein Radio, er sammelte Blechdosen und füllte sie mit Karbid, baute Bomben und ließ sie im Garten hochgehen, auch das machte den kleinen Kindern Spaß. Eine davon hinterließ eine pechschwarze stinkende Wolke, der brandige Gestank drang in sämtliche Zimmer des Hauses. All das bekümmerte Mr. Bosomworth, er wies Georg zurecht, aber Georg begann das Maulfechten und Streiten, das war nicht üblich in dieser harmonischen Familie. Mehrmals erwischte Mr. Bosomworth auch Georg, wie er an seinem kleinen selbstgebastelten Radio einen deutschen Sender hörte. Also verstand Georg noch Deutsch, also sehnte er sich nach seiner Muttersprache. Aber der Pflegevater hatte auch Angst, daß Georg sich in etwas verrennen, daß er Opfer eines Spions werden könnte. Ob diese Ängste übertrieben waren oder eine Folge des Krieges, ließ sich nicht klären. Mr. Bosomworth hatte sie und glaubte handeln zu müssen. Georg schloß sich weiter ab, hörte nicht zu, wenn man etwas zu ihm sagte, bastelte und tüftelte. Auch seinen Zimmergenossen John, der ihn aufgenommen hatte, ließ er nicht an sich heran. Als Mr. Bosomworth sich nicht mehr zu helfen wußte, brachte er Georg zu einem Psychiater. Der unterhielt sich lange mit Georg und empfahl dann, Georg solle besser in einer Gegend leben, in der keine V2 zu erwarten waren, in der er den Konflikt, zwischen Deutschland und Großbritannien zu stehen, nicht so stark empfinden würde. Es wurde ein Platz in der Midhurst Grammar School gefunden, deren Direktor dafür bekannt war, gut mit schwierigen Kindern umzugehen, und es wurde auch eine Familie in der Nähe gefunden, die Georg aufnahm. Von dieser Familie wußte Selma nichts zu erzählen, wahrscheinlich hatte Georg auch kaum etwas erzählt. Selma sprach über die Trennung von ihrem Bruder in einem gänzlich resignierten Ton; etwas brach ab.