Nach dem Kriegsende hatten die Bosomworths die Freude an ihrem Haus verloren, sie wollten möglichst weit weg, weit von der Erinnerung an die V2, der dauernden Angst, eine Rakete könnte das Haus treffen. Sie entschieden sich, nach Sansibar auszuwandern. Das Haus wurde verkauft, und für Selma wurde ein Platz in Suffolk gefunden: bei den Hales. Sie war jetzt so gedemütigt, daß sie jede Veränderung in ihrem Leben fraglos akzeptiert hätte. Frances schrieb ihr, sogar häufig, schickte viele bunte Briefmarken und die herzlichsten Grüße aus Sansibar. Sie war einfach ein sonniges Mädchen. Aber dann war es doch gut bei den Hales, und als das Ehepaar merkte, wie sehr sie ihren Bruder vermißte, nahmen sie auch Georg auf, der seine Krise überwunden hatte.
Es fiel Kornitzer schwer, Selma zu glauben. Übertrieb sie nicht maßlos, malte sie nicht alles schwarz, was auch grau oder in Pastelltönen hätte skizziert werden können? Er schrieb an Georg, fragte nach, das große wichtige Wort dieses Briefes war really. Und gleichzeitig fürchtete er ein wenig, daß die Kinder sich über diesen Brief austauschen würden, daß Selma vom Bruder erführe, der Vater sei mißtrauisch und wolle sich versichern, aber Georg bestätigte alle Angaben. Kornitzer weiß, er kränkt die Tochter, die sich unverstanden fühlt, ein weiteres Mal, indem er ihr nicht glauben will. Er will sich ihr nähern durch sein Wissenwollen und hält sie gleichzeitig in der Distanz des Zweifels. Als habe sie sich auf dem Land, im Umgang mit Tieren und Heu und Getreide eine blühende Phantasie angeeignet. Und Georg schreibt zurück, freundlich und ruhig, ja, er schreibt sehr nett an die ihm fremd gewordenen parents. Alles, was Selma erzählt hat, was an Erzählbrocken aus ihr herausgeschleudert worden ist, sei wahr. Aber Georg sah es nüchterner, es sei ja nun vorbei, und es ließe sich ja auch nicht mehr ändern. Spilt milk. Er lebe gerne bei den Hales und wolle zu seinem 18. Geburtstag die englische Staatsbürgerschaft beantragen. Adoptiert werden wolle er nicht. Es sei not necessary. (War das eine Geste der Bescheidenheit oder auch eine Resignation? Oder wollte er möglichst rasch sein eigener Herr sein und nach allen Wechseln der Aufenthaltsorte und der Pflegefamilien früh unabhängig werden?) Und er unterschrieb seinen Brief: George.
Kornitzer zeigt den Brief Claire, als er nach Bettnang kommt, stippt mit dem Finger auf das End-E. George, George, so heißen Könige, unser Sohn nicht. Aber Claire, die ihm den Brief aus der Hand nimmt und ebenfalls auf die Unterschrift starrt, läßt den Brief wieder sinken und macht eine so trostlose Handbewegung, daß Kornitzer seine Erregung wie einen Feuerwerkskörper im feuchten Nebel verzischen sieht. Und als er am Abend noch einmal über den Vorgang nachsinnt, kann er Claire nicht recht geben und sich selbst in seiner Verletztheit nicht trauen, und er weiß nicht, was schlimmer ist. Er fährt zurück nach Mainz, er hat Mitleid mit der Tochter, aber auch Mitleid mit sich selbst, daß er der Tochter nicht wirklich nahe kommt und dem Sohn erst recht nicht.
Einmal möchte Selma auch nett sein, ihrer Mutter etwas Liebes tun, wie sie sich um Mrs. Bosomworth bemüht hat, wie sie sich bei Mrs. Hales gut beträgt. Von ihren Streunereien durch die Wiesen und Wälder bringt sie Pilze mit, sie kennt sich aus, sie hat mit den großen Bosomworth-Mädchen Pilze gesammelt. Sie putzt sie und schmurgelt sie in der Pfanne, als Claire aus der Molkerei kommt. Und sie hatte auch die deutschen Wörter gelernt. Maronenröhrling, Wiesenchampignon. Aber Claire freute sich nicht, sie sah in die Pfanne, sah die strahlende Selma, und auf einmal geriet sie in Panik. Sie, die Berlinerin, verstand nichts von Pilzen, und sie nahm auch an, daß Selma nichts von Pilzen verstand. Und wenn sie etwas verstand, hatte sie einen teuflischen Plan: Sie wollte ihre Mutter vergiften. Dann wäre sie frei. Claire nahm die Pfanne und schüttete sie in den Abfall.
Zum ersten Mal in Bettnang weinte Selma. Claire hätte weinen wollen, aber es gelang ihr nicht. Drei Tage sprach sie nicht mit der Tochter, es war ihr einfach nicht möglich. Das war der Herbst.
Im Winter schneite es so heftig, wie Selma es noch nie hatte schneien gesehen. Halb Bettnang schnallte die Skier an, strömte auf die gleißenden Hänge. Die Pfempfle-Söhne nahmen sie mit, aber sie machten sich auch lustig über ihr schlechtes Deutsch, das so wenig Fortschritte zeigte. Und jeder Vierjährige stand nach ein paar Versuchen sicherer auf den Brettern als dieses große, kräftige Mädchen. Selma hatte in Suffolk auf den Teichen geschlittert und war Schlittschuh gefahren. So trieb Claire (wo, wo?) ein paar Schlittschuhe für sie auf, Selma fuhr mit dem Postbus nach Lindau, zog einsame Bahnen auf dem Eis und kam schweigsam, aber mit roten Backen nach Bettnang zurück. Sie war ein gefrorener Teich. Das war der Winter. Bei der Schneeschmelze, nach Besuchen hin und her zwischen Mainz und Bettnang, wurde der Versuch abgebrochen. Claire und Richard erlaubten ihrer Tochter, nach England zurückzukehren. Unter einer Bedingung: sie käme zusammen mit Georg in den Schulferien zu den Eltern. Das versprach Selma. Es war nicht einfach, die deutsche, minderjährige Staatsbürgerin wieder nach England einreisen zu lassen, eine Aufenthaltsbewilligung für sie zu erreichen, für ihren Unterhalt zu sorgen. Es war nicht einfach, die Tochter ein zweites Mal zu verlieren. Sie reiste allein, das trauten ihre Eltern der Fünfzehnjährigen zu. Es war kein Triumph, es war ein Desaster.
Aus dem Inneren
Kornitzer war hellhörig geworden. Nicht in sich selbst zu versinken, schien ihm eine gute Devise zu sein nach der Niederlage, die ihm seine Tochter beigebracht hatte. So empfand er es jedenfalls. Und Tätigsein half. Er stürzte sich in die Arbeit wie in einen Bottich mit kaltem Wasser. Er stürzte sich in die Arbeit wie in ein Messer. Er stürzte sich in die Arbeit wie ein Berserker, er trieb die Referendare, die Assessoren an, ihm zuzuarbeiten, sie wußten nicht, wie ihnen geschah, daß er so arbeitswütig war. Ja, er stürzte sich. Alles diente der Rechtsfindung. Selma hatte recht mit ihrem Widerstand dagegen, in Deutschland leben zu sollen, und Claire und er hatten recht mit dem Wunsch, die Lücke der Trennung zu schließen, die Wunde, die ihnen geschlagen worden war, zu heilen. Er mochte jetzt die langen Flure im Gebäude des Landgerichts, das Getrappel der Füße auf den Treppen, den Blick aus dem Sitzungssaal auf die Wüste, die die Zerstörung der Stadt offengelegt hatte, die abgeräumten Steinfelder und die aufragenden Mauerzähne, die Fensterhöhlen und ihr dramatisches Schweigen. Die Arbeit erdete. Er mochte die Wachtmeister, die mit sicherem Blick und Griff einen Angeklagten vorführten, er mochte die Wägelchen, auf denen die Aktenlast transportiert wurde, die langen Bänke im Flur, die nervöse Zeugen blank rutschten, er mochte das Funktionieren, das Reibungslose, mit dem Fälle aufgerollt und abgerollt wurden, das Ineinanderspielen der Kräfte, er mochte das Formulieren eines Urteils, die Klarheit. Die gegebene Ordnung und die Notwendigkeit, sich darin einzupassen, waren heilsam. (Hatten das auch die Juristen gedacht, die, anders als er, nicht aus dem Dienst gejagt wurden, die weitermachten, als sei nichts geschehen, die sogenannten „arischen“ Juristen? schoß es ihm manchmal durch den Kopf, und der Kopf schmerzte.) Ja, er mochte auch die eigene Strukturiertheit, die von Fall zu Fall arbeitete, Fälle abarbeitete, es war eine Genugtuung zu arbeiten. Tatbestandsvoraussetzungen, Einwände, Erläuterungen, Problemfälle, Fristen und Fristverlängerungen, Urteile. Das Zivilrecht war ein Florett, wie Feuer und Schwert kam ihm dagegen das Strafrecht vor. Er mochte Feinheiten, Kniffe, die Suche nach Referenzurteilen. Er war in seinem Element. Er dachte an Selma, die gekommen war, an Georg (George), den man mit Engelszungen locken mußte, die nierenkranke Frau, die ihm Schuldgefühle machte, was ihn beschämte, aber den Kontakt nicht wirklich erleichterte. Er kehrte zu den lösbaren Fällen auf seinem Tisch zurück.