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Die Untergrabung der Regeln, nach denen er operierte, wollte er gar nicht mehr in Betracht ziehen, ihre Zertrümmerung in Berlin, ihre Dehnung und Zerrung nach Belieben in Havanna waren schmerzhaft genug gewesen. Kubanische Gummiparagraphen, Kautschukgesetze, die auszulegen waren nach verschiedenen Interessen, und vor allem den Interessen, bei denen Geldscheine über den Tisch geschoben wurden, schöne Floskeln auf dem Papier, die im Zweifelsfall das Papier nicht wert waren, auf dem sie gedruckt waren. Gesetze, die der aufrechte Jurist nicht liebt. Er spürte die Erschütterung immer noch, er war traurig und auch gleichzeitig mit sich zufrieden, und der Widerspruch störte nicht wirklich. Er hätte sich den Widerspruch wie eine Postkarte hinter den Spiegel klemmen müssen. Aber einen solchen Spiegel gab es nicht, und deshalb vergaß er auch den Widerspruch. Er sah von sich ab.

Als er zum Landgerichtsdirektor ernannt wurde, freute es ihn. Es paßte gut in diese Phase der gesteigerten Aktivität. Er hatte nun mehr Verantwortung, sein Gehalt stieg, er hätte Sprünge machen können, wenn er es wollte. Aber Sprünge wohin? Daß seine erstaunlich rasche Ernennung zum Landgerichtsdirektor eine berufliche Wiedergutmachung war, daß die ihm entgangenen Berufsjahre als Richter angerechnet wurden, sah er klar, und er war dankbar dafür. Wäre er als Rechtsanwalt vom Berufsverbot betroffen gewesen oder in einem anderen freien Beruf, er hätte unzählige Nachweise über seinen Verdienst vorlegen müssen, und wenn die nicht beizubringen waren, eidesstattliche Erklärungen. Und wer wußte noch wirklich, was er an Honoraren vor fünfzehn Jahren eingenommen hatte? (Insofern hatte Kornitzer als Richter Glück. Richter konnten sich in andere Richter hineinversetzen, so einigermaßen, glaubte er jedenfalls. Und die Gehaltsstufen und Gehaltsklassen waren allgemein bekannt und nachvollziehbar.)

Lieber wäre Kornitzer nach der Zeit im Untersuchungsausschuß in Lindau Vorsitzender einer Entschädigungskammer am Landgericht geworden, es gab zwei davon: In seiner eigenen Vorstellung war er dazu prädestiniert, Verfolgten zu ihrem Recht zu verhelfen. Aber ihn in einer Entschädigungskammer einzusetzen, auch nur als Beisitzer — das hatte ihm der Landgerichtspräsident schon in den ersten Tagen nach seiner Berufung nach Mainz gesagt — komme nicht in Frage, er sei ja Partei. Ihn hatte dieses Verdikt wie ein Keulenschlag getroffen. Weil er Jude war, weil er verfolgt worden war, weil ihm Wiedergutmachungsleistungen zustanden, war er Partei. Und diejenigen Richter, die Mitglieder der nationalsozialistischen Partei gewesen waren, waren nicht Partei, waren befugt und besser geeignet, über Wiedergutmachungsleistungen zu urteilen. Er wußte ja nicht viel über den Werdegang seiner Kollegen am Landgericht, das war gut so oder auch nicht. Es gehörte sich nicht, nach der Vergangenheit zu fragen. Massenhaft praktizierte Diskretion schien der Weg zu sein, Vergangenheit zu beschwichtigen und aus dem Bewußtsein zu tilgen. Auch seine Vergangenheit war ein Tabu, niemand fragte. Jetzt war jetzt, das Tägliche drängte. Und so war ihm der Mund verschlossen. Im Lichte der Vergangenheit verdunkelte sich die Gegenwart. Kornitzer stand vor einem ungeschriebenen Gesetz, er war ein tadelloser Richter und fühlte sich verurteilt, aber er kannte seine Strafe nicht. Sie nicht zu kennen, war eine Potenzierung der Strafe. Also arbeitete er, vertiefte sich in Akten, bereitete Urteile vor und formulierte sie. Rechtsstaatlichkeit, rechtsstaatliche Normalität, daran war nicht zu zweifeln, darum war er Richter geworden und wollte es immer bleiben. Über ihn wurde auch gerichtet, getuschelt, er spürte das. Als sich ihm dann nach seiner Ernennung die Hände seiner Kollegen zur Gratulation entgegenstreckten, von tief unten aus dem Selbstfahrer die des Grundbuchrichters Dr. Funk, als er über den Händen die zusammengekniffenen Mundwinkel sah, die scharfen Falten um die Augen bei Dr. Buch, zweifelte er wieder an der Möglichkeit der Einfühlung. Nein, sie versetzten sich nicht in seine Lage, viele neideten ihm die rasche Ernennung, das war deutlich, blieb aber unausgesprochen. Er wollte das übersehen in seiner Freude. Ihm fiel das Wort „aalglatt“ ein, und er wollte es sofort wieder aus seinem Gedächtnis tilgen. Polemik war nicht am Platz, er war Richter, und er war unabhängig.

Und er wollte, daß Claire nach Mainz käme und die elende, sie langweilende Arbeit in der Molkerei aufgäbe. Endlich ein gemeinsamer Hausstand, endlich Ruhe, das Glück, nach Hause zu kommen, und da wäre seine Frau und wartete, freute sich, daß er kam, und hatte das Abendbrot vorbereitet. Dann erinnerte er sich wieder, daß es keinesfalls so gewesen war, bevor er emigrierte, Claires Berufstätigkeit hatte sich häufig bis in den späten Abend hineingezogen, und er als der junge Richter war viel häufiger zuhause, wenn Georg und die kleine Selma ins Bett gebracht und beruhigt werden mußten, und er erinnerte sich mit Freude an diese Situation.

Er war nun Vorsitzender der 2. Zivilkammer am Landgericht, er saß seinem eigenen Leben vor, und das begeisterte ihn. Es paßte zu dieser Begeisterung, daß er einen Anruf der Stabsstelle „Opfer des Faschismus“, angesiedelt beim Oberbürgermeisteramt, bekam, ob er ein Haus haben wolle, ein neu erbautes Haus, ein Holzständerhaus in einer Siedlung, in der vorwiegend französische Besatzungsoffiziere lebten, zufälligerweise ganz in der Nähe der Familie Dreis im selben Stadtteil gelegen. Er sah sich den Rohbau an, die Arbeiter in ihren Leibchen oder mit ihren nackten sonnengebräunten Rücken, wie sie sich bückten und streckten, er sah das Mauern Stein auf Stein auch in der Nachbarschaft, das Hämmern und Klopfen, die tüchtige Geschäftigkeit. Holzschindeln wurden an der Giebelseite angebracht, ein Tischler lieferte auf einem kleinen Lastwagen Fensterläden. Hinter Klappläden hatte er noch nie gelebt, er stellte sich eine abendlich winterliche Ruhe vor, Geborgenheit, das Haus barg ihn, und er barg die Familie, so gut es eben ging.

Ja, er wollte das Haus, er sagte sofort zu, er freute sich unendlich. Claire käme, Georg und Selma hätten jeweils einen Raum für sich und er ein Arbeitszimmer. Er hatte den Sohn und die Tochter einige Male in Suffolk besucht, es war eine klamme Situation, viel Aufwand, Gefühlsaufwand und Kummer, eine teure Reise. Ob es gut für Georg und Selma war, wußte er nicht zu sagen. Er kam jedenfalls erschöpft von der Überanpassung zurück. Sich für die nächsten Gerichtstermine vorzubereiten, war fast eine Wohltat, klare Strukturen, Gesetze. Zweimal in der Woche tagte die Kammer, dieser Rhythmus ging ihm in Fleisch und Blut über. Im Umgang mit seinen Kindern tastete er nur, er wollte nichts falsch machen und ihnen die Angst vor Deutschland nehmen. Ob ihm das gelänge, wußte er selbst nicht. Und ob seine Ernennung zum Landgerichtsdirektor und das Angebot für das Haus in einem Zusammenhang standen, erfragte er nicht, es wäre ihm unangenehm gewesen. Nur: Der Landgerichtsdirektor konnte nicht auf Dauer bei einfachen Menschen in Untermiete leben, das paßte nicht, verletzte möglicherweise die Würde des Gerichts. Es war nicht „standesgemäß“. Mit seinem Gehaltsnachweis verhandelte er, Hypotheken, Kredite, ein wenig schwindelte ihm in der Bank, aber es gefiel ihm auch. Grund und Boden, ein Gärtchen, bis jetzt hatte er nur die Spaziergänge am Rhein entlang gemocht, das würde anders, er würde heimisch in Mainz. Claire, mit der er jetzt der neuen Entwicklungen wegen häufig telephonierte, lachte am anderen Ende der Leitung, gluckste, kam nach Mainz, freudig, vorfreudig. Sie sahen sich Möbel an und Gardinen mit geometrischen Mustern, bei denen einem schwindlig werden konnte. Sie kauften einen Herd und einen Staubsauger. Claire ereiferte sich über Teesiebe und Milchkännchen, diese nützlichen Anschaffungen erinnerten sie an die Zeit in Berlin, kurz vor ihrer Hochzeit, an das Glück, sich gefunden zu haben, und den Entschluß zu einem gemeinsamen Leben. Jetzt sah es aus, als hätten sie eine zweite Chance. Nein, es war wirklich eine zweite Chance, und Bettnang, Claires Zimmerchen im Dachgeschoß, war nur ein Üben, eine noch zaghaft gedachte Lebensform gewesen, der endlich eine gültigere folgte.