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Kornitzer schrieb an Georg und Selma, noch immer konnte er sich nicht entschließen, seinen Sohn mit George anzureden, wie der es wollte, schrieb ihnen von dem Haus, der größeren Freiheit, dem Komfort und lud sie ein. Das Holzschindelhaus war ein Glück, ein schneckenhäusiges Glück hinter zugezogenen Gardinen, und Claire war ein Glück.

Er sprach mit der Familie Dreis, kündigte formvollendet seinen Untermietvertrag, alles war in Ordnung, man gratulierte ihm zu dem Haus, und zu dem, was die Familie „Familienzusammenführung“ nannte. Und Kornitzer sagte in aller Strenge und in preußischer Nüchternheit: Nun ja, zunächst handelt es sich ja nur darum, daß meine Frau und ich endlich wieder ein normales Ehepaar werden. Wie sich die Sache mit den Kindern in England entwickeln würde, wußte er selbst nicht, war aber nicht eben hoffnungsvoll und sagte noch in den offenen Hallraum der Familie: Daß es schwierig sein werde mit seiner Tochter, habe Frau Dreis doch bemerkt. Er schaute ihr geradeaus ins Gesicht, voller Sympathie, ihr, die den wunderbar duftenden Käsekuchen gebacken hatte, den Selma dann doch nach langem Zögern, ohne ein Krümelchen zurückzulassen, aufgefuttert hatte. Er schaute die Fransen der Tischdecke an, hörte auf das wäßrige Ticken der Wanduhr, schaute Frau Dreis wieder an und wiederholte noch einmal, fast automatisch, daß es schwierig sein würde mit der Tochter, habe doch jeder bei dieser ersten Begegnung gemerkt. Und der Sohn? fragte der alte Herr Dreis vernünftig. Seine Frau schöpfte so kräftig aus einem Linseneintopf auf den Teller des frisch gebackenen Landgerichtsdirektors, daß es ein Vergehen gewesen wäre, „nein, danke“ zu dem Angebot zu sagen. Also sagte er „gerne“, aß und bedankte sich auch für die Wurstringel, die in der dicken Suppe schwammen. Er war leicht zum Essen zu verführen. Die Familie Dreis hatte es schnell bemerkt. Und die Wärme des Essens beruhigte, sein baldiger Auszug, die Veränderungen in seinem und im Leben der Familie Dreis warfen schon ihren Schatten voraus. Mit dem Sohn gehe es sicher besser, sagte Kornitzer, nachdem er geschluckt hatte, Georg habe sein Deutsch nicht so verlernt wie Selma, und er sei altersgemäß Argumenten zugänglicher. Nette Briefe schriebe er, fügte Kornitzer noch hinzu, aber das war etwas übertrieben, es waren Briefe mit Mitteilungen, aber ohne Emotionen. Gut, gut, sagte Herr Dreis, und damit war das Thema abgeschlossen. Es schien für die Dreisens auch absehbar, daß sie so bald keinen Untermieter mehr aufnehmen mußten. (Dem Wohnungsamt ein Schnippchen schlagen.) Vielleicht gab es Nachrichten aus dem Gefangenenlager, vom Ehemann der jungen Frau Dreis, vom Vater der kleinen Evamaria, an den sie sich wohl kaum erinnern konnte. Sie lebte in einer Art von Schockstarre einer zukünftigen Freude auf den Vater entgegen, von dem man ihr viel erzählte, einer Freude, der eine bittere Lebensenttäuschung folgen könnte. (Stimmte das denn? Plötzlich kamen Kornitzer berechtigte Zweifel. War der Vater und Ehemann vielleicht auf andere Weise abhanden gekommen, und in der Familie wurde nur noch sein Mythos gebraucht?) Und so schlingerte das Gespräch wie die ganze Beziehung zu den Wirtsleuten hin und her, und es war nicht klar, wie was weggeschlingert wurde. Evamaria fragte schon mit einem kläglichen und gleichzeitig verführerischen Stimmchen: Onkel Konizzaa (sie konnte immer noch kein R sprechen, und niemand im Haus war der Meinung, es nütze ihr, es zu lernen), Onkel Konizzaa, fragte sie, du kommst mich doch besuchen, wenn du nicht mehr bei uns wohnst? Sie zog so eine Schnute, daß Kornitzer gar keine Wahl hatte als ihr zu versprechen: Natürlich käme er hier und da auf einen Sprung vorbei. (Er war ein Zeuge ihrer leidenschaftlichen Treppengeländerritte, die zum Glück ohne Stürze ausgegangen waren, und war ein wichtiger Mensch in ihrem Leben geworden.)

Und er bemerkte aus den Augenwinkeln die junge Frau Dreis, wie sie sich dehnte und sehnte nach irgendetwas, das ihn, den Untermieter, erreichte, aber nicht wirklich meinte, wie sie sich schlängelte, Zeit verlor und vertrödelte zwischen der gemeinsam genutzten Waschküche, in der immer etwas auf einer einsamen Leine hing, was gerade abgenommen werden mußte, wenn er sich dort aufhielt (oh, Entschuldigung!), und dem Empfinden, etwas müsse geschehen, hier in diesem kleinen Haus. Sich zu informieren und von unglückseligen Sentimentalitäten Abstand zu nehmen, war kein Schaden. Und er, der Gast, der Untermieter, der frisch gebackene Landgerichtsdirektor, der in dem kleinen Backsteinhaus wohnte, brauche etwas, das keinen Namen hatte und vielleicht niemals einen Namen hätte, aber Kornitzer verstand sehr gut, daß in der Phase des Abschieds die junge Frau ihre Augen nicht mehr gesenkt hielt, sondern Ausschau hielt, lauerte, sich bereithielt. Ihre makellose Schlankheit, ihre helle Haut waren nicht nur ein Sehnen, sie waren eine Realität. Und gelänge ihr, wonach sie sich sehnte, wäre der Gast nicht mehr Gast, sondern eingebunden, an das Haus der Familie gefesselt, der jungen Frau Dreis ergeben. Sie hielt ihre Augen unter den hohen Augenbrauen nicht mehr gesenkt, manchmal machte sie ihrem Namen Ehre und schaute ziemlich dreist.

Auch schienen Kornitzer jetzt ihre Augenbrauen nicht mehr so arrogant, sondern eher fein gezeichnet, sensibel fast. Ihr Vorname Barbara war ihm beiläufig auf einem Treppenabsatz aufgenötigt worden, und er hätte ihn am liebsten gleich wieder vergessen, hätte es im Familienraum nicht plötzlich inflationär nach ihm geschallt. Irgendwie hatte er, vielleicht schon im Reden des alten Herrn Dreis und im Schweigen der alten Frau Dreis (doch, ihr Käsekuchen war eine große Befriedung seiner schwierigen Situation gewesen, für die er ihr überschwenglich gedankt hatte) bemerkt, wie dürftig, bedürftig, wie zerbrechlich seine „Familienzusammenführung“ gewirkt hatte. Aber er hatte auch rasch begriffen, daß es nur eines Blicks (seines gesunden Menschenverstandes?) bedurfte, um aus den ungefähren Wahrnehmungen zu einer ästhetischen und ethischen Gewißheit zu gelangen. Um es kurz zu sagen: Nachdem Mrs. Hales und Claire und Selma zu Gast im Haus gewesen waren, hatte er das untrügliche Empfinden, Barbara Dreis stelle ihm nach. Das war nicht beweisbar, auch nicht strafbar, eher menschlich verständlich. Allzu häufig sah er zusammengenestelte Morgenröcke, Haar, das frisch gewaschen, lasziv am Ofen getrocknet wurde, er sah nackte Füße, Beine mit feinen blauen Äderchen in der Kniekehle, die hochgelegt worden waren auf eine Stuhllehne. Er sah Blicke aus dem Augenwinkel, die ihn trafen, und Blicke geradeaus, die ihn verschlangen und auch trafen. Er hatte auch gesehen, wie Benno Dreis, das nervöse Bürschchen, das Kornitzer eigentlich unheimlich war, seine Schwägerin auf einem Treppensatz um die Hüfte nahm, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt. Und er hatte auch gesehen, wie die alte Frau Dreis und die junge Frau Dreis am Sonntagmorgen beim Glockenläuten aus dem Haus zur Kirche gingen, zwischen ihnen Evamaria in einem frisch gestärkten Kleidchen, die alte Frau Dreis trug einen würdigen Topfhut, die junge Frau Dreis ging hoch erhobenen Hauptes und strich sich mit der Hand, die einen Häkelhandschuh trug, über ihr frisch gewaschenes, fliegendes Haar. Und er erinnerte sich an den schnellen, hochmütigen Blick, den er aufgefangen hatte, als die junge Frau Dreis die rosige, freundliche Mrs. Hales, Claire mit ihrem sorgengepeinigten Gesicht und die ungelenke Selma in der Kaffeerunde im Wohnzimmer begrüßt hatte. Claires geschwollene Beine unter dem Tisch hatte sie vermutlich nicht gesehen. Der Blick, der ihn streifte, war nicht hochmütig, sondern eher ein wenig mitleidig wie: Na, mit so viel Problemen geben Sie sich ab. Zwei alte Schachteln und dieses Mädchen. Sie, Barbara Dreis, die hinter ihrer glatten Stirn nicht sehen ließ, was sie dachte (ja, was, dachte sie überhaupt, und was hatte sie ein paar Jahre früher gedacht, als die SA durch Mombach marschierte?), zeigte überdeutlich, was sie fühlte: Hier bin ich, selbstbewußt, durch die Umstände allein, und da sind Sie, Herr Doktor Kornitzer, aus dem Leben gefallen und bei uns gestrandet. Und Evamaria mag Sie auch. Es ist eine ganz einfache Sache, eine Milchmädchenrechnung. Berechnung und Leidenschaft. Es war nur nicht ganz klar, wie aus dem Sehnen, aus ihrer Gefühlslogik eine Wirklichkeit werden könnte. Sie wartete, daß er handelte. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie ihm nicht gefiel. Das war eine kränkende Phantasielosigkeit. Es war Zeit, daß er auszog. Eine strahlende Claire werkelt dann im neuen Haus, nichts ist ihr zu viel. Sie ist früher in Berlin keine begnadete Hausfrau gewesen, eigentlich gar keine, nun fummelt sie mit Bürsten und Schabern, um die Farbspritzer, die die Handwerker auf den Fenstern und Böden gelassen haben, zu tilgen. Sie kauft ein Rezeptbuch und einen Sahnequirl. Die Arbeit in der Molkerei am Bodensee, wo Milch und Honig fließen, hat eine Spur gelassen. Als die Kinder sich für die Ferien ankündigen, ist es ein Aufatmen und eine Anspannung zugleich. Claire überlegt sich, was ihnen gefallen könnte, rückt die Möbel in den Räumen mit den schrägen Wänden hin und her, kauft einen Globus für George (ja, sie arrangiert sich demütig mit seinem englischen Namen), kauft eine Druckgraphik mit Pferden von Franz Marc für Selma, läßt von einem Dekorateur die Gardinen aufhängen. Alles ist Erwartung, alles ist Sorge, daß es den fast erwachsenen englischen Kindern bei ihren deutschen Eltern nicht gefiele, daß sie Angst hätten vor Deutschland und seinen Bewohnern.