Der Sommeraufenthalt der Kinder steht unter einem Erfolgsdruck. Selma schrieb in einem Ankündigungsbrief Deutschland fälschlich „Deichland“, und es war nicht klar, ob diese Adressierung ein Hörfehler oder ein unbewußtes Bollwerk gegen ihre Angst vor dem Gewesenen in Deutschland war oder ob sie, die mit einem neuen deutschen Paß in England bleiben wollte, während ihr Bruder schon englischer Staatsbürger war, einen symbolischen Deich bauen wollte gegen das Deutschland, das sie herausgeeitert hatte. Ein Deich war wohl auch ihre Angst, ein Deich war auch ihre Skepsis. Also mußte jetzt alles eine ruhigere Gangart haben, es stand weder für George noch für Selma zur Debatte, auf Dauer unter dem Dach ihrer Eltern zu leben.
Und dann holen Claire und Richard Kornitzer die beiden am Bahnhof ab. George mit einem weißen Hemd und einem Rautenpullover darüber sieht gut aus, sein braunes Haar etwas wirbelig zerstrubbelt über der Stirn. Er ist nicht so groß wie Claire ihn sich nach den letzten Photos als ihren großen Sohn vorgestellt hat, er trägt sein Gepäck und dazu einen Koffer von Selma, Selma schleppt zusätzlich einen Rucksack. Selmas Gesicht ist schmäler geworden, vielleicht liegt es nur daran, daß sie sich zum Pferdeschwanz einen Pony hat schneiden lassen. Claire winkt schon von weitem, und dann rennt Kornitzer auf dem Bahnsteig nach vorn, umarmt — ja er kann nicht anders — George, der sich das gefallen läßt, und dann zögert Kornitzer, Selma zu umarmen, unterläßt es und nimmt ihre Hand, ihre von der langen Reise verschwitzte Hand zwischen seine Hände und will sie nicht loslassen.
Das Haus mit dem Holzschindelgiebel ist eine Hülle, es tut auch dem großen Jungen und dem Mädchen gut. Beide befühlen die Vorhänge, die Stuhlkissen, sehen aus den Dachfenstern auf die propere Siedlung. Daß sie französische Nachbarn haben, mit denen sie nur auf Deutsch sprechen können, beeindruckt sie. Also ist das Deutschlernen doch zu etwas nütze, es ist eine Vermeidung des Umgangs mit Deutschen. Es öffnet ihnen ein Fenster. Immer noch glucken die Kinder eng beieinander, besuchen sich so häufig in den Nachbarzimmern, als wäre ihnen ein gemeinsames Zimmer lieber, aber dafür sind sie entschieden zu groß. Selma hatte ihren Bruder so sehr gebraucht, und er hatte sich daran gewöhnt — mit einer gewissen Gelassenheit, als könne es gar nicht anders sein. Was er braucht, ist nicht sichtbar, nicht auf den ersten Blick, nicht auf den zweiten Blick. Vielleicht braucht er das Gebrauchtwerden.
George und Selma schauen sich das Klopfen und Hämmern in der Stadt an, an allen Ecken und Enden wird jetzt gebaut, zuerst waren es nur Buden und Kuben, die auf die Trümmergrundstücke gesetzt worden sind, dann wurde ein erster, ein zweiter Stock darauf gesetzt, schließlich wurde ein Erker darangeklebt und eine Madonna, die gerettet worden war, wieder in eine Nische gestellt. Es herrscht eine Sehnsucht nach dem Original, alles soll so werden, wie es war, aber besser, schöner, also ganz und gar nicht wie es war. Kornitzer, der sich Bilder angesehen hat vom alten Mainz vor der Zerstörung, kann die Sehnsucht nachvollziehen. Die Baustellen in der Stadt sind Hoffnungsträger, es geht weiter, es geht aufwärts, es lohnt sich zu leben. (Die Steine sagen es.)
Claire tischt große Mahlzeiten auf, den Kindern schmeckt das dunkle Roggenbrot, die Forelle Müllerin, sie mögen die geräucherten Würste, und manchmal öffnet Kornitzer eine Flasche Riesling aus Rheinhessen, und alle werden schwatzhaft und reden in einem Sprachenmischmasch. Doch manchmal verstummt Selma auch plötzlich. Deichland hat ihr die Sprache verschlagen. Einmal versucht sich Claire an einem Käsekuchen, wie Frau Dreis ihn gebacken hat. Aber er mißlingt gründlich. In einem Kraterrand aus Teig ist die ganze Käsemasse eingestürzt und zusammengematscht. Es ist ein küchentechnischer Deichbruch. Aber Selma ißt ihn trotzdem mit gutem Appetit. Erinnerst du dich an den Käsekuchen bei deinem ersten Besuch in Mainz? fragt Claire, um die Scharte ein bißchen auszuwetzen. Nein, Selma erinnert sich nicht. Ihre Aufmerksamkeit war wohl bei ihrem eigenen Gefühl des Widerstrebens geblieben. Und damit hat es sein Bewenden.
Richard und Claire tun alles Mögliche, damit George und Selma sich wohlfühlen bei ihnen. (Verwöhnen sie sie aus Kummer, aus schlechtem Gewissen? Aus nachgetragener, nachgeholter Liebe?) Ob die beiden sich wohlfühlen, steht in den Sternen. Die Familie macht Ausflüge in die weinseligen Dörfer und Städtchen, sie kraxelt auf Burgen, sie wandert auf Weinbergspfaden, bei großer Hitze macht sie sich auf den Weg von der Bahnstation Oppenheim im Tal zur Katharinenkirche. Kornitzer hat in einem Reiseführer von dem Beinhaus gelesen. Von 1400 bis 1750, also dreihundertfünfzig Jahre, haben die Oppenheimer die Gebeine ihrer Toten hierhin, in die Michaelskapelle, umgebettet. Es müssen um die 20.000 Menschen gewesen sein, hat Kornitzer sich gemerkt. Nach einer Ruhezeit in einem Grab auf dem engen Friedhof am Hang wurden die Gebeine der Toten wieder ausgegraben, um Platz für neue Verstorbene zu schaffen. Nur zehn Jahre durften die Toten in der geweihten Erde ruhen, dann war Schluß, und sie zogen ins Beinhaus um. War die Erde außerhalb des Friedhofs, auf der seit Jahrhunderten Wein wuchs und prachtvoll gedieh, ein sehr berühmter Wein, war die Erde zu kostbar, sie dem Friedhof zuzuschlagen, wenigstens nur in einem schmalen Streifen, natürlich nicht den ganzen sonnigen Hang hinunter? Solche Gedanken zwischen oder besser: außerhalb der Religionen will sich Kornitzer nicht machen, aber sie kommen von selbst. Er erzählt den Kindern von der alten jüdischen Geschichte des Städtchens, von Speyer und von Worms, er weiß ja selbst nichts Wirkliches darüber, er muß es nachschlagen, nachlesen, nachbeten; und er ist nicht sonderlich gut in diesen Nachhilfeleistungen. Von Breslau, von Berlin aus war die jüdisch-rheinische Geschichte Jahrmillionen weit weg, ja, so drastisch mußte man es ausdrücken. Es gab keinen verbindenden Gedanken außer dem, daß blühende Gemeinden gewaltsam zerstört worden und daß einige ihrer Mitglieder zu Rang und Namen gekommen waren. Kornitzer spricht, ja er doziert über die jüdischen Namen Oppenheim oder auch Oppenheimer. Aber die Kinder, die großen Kinder, schauen ihn unbeeindruckt an, sie haben diese Namen nie gehört, und sie scheinen sie auch nicht sonderlich zu interessieren. Die Sommerhitze, das klamme Steigen den Berg hoch interessiert sie, ein Gasthaus könnte sie interessieren. Er erzählt vieles, was er auch nur so ungefähr weiß, er haspelt darüber hinweg. Es ist ja nur ein Familienausflug, und die Kinder sollen „etwas“ mit nach England nehmen, etwas von der gewaltsamen Schönheit der Landschaft, etwas vom Mythos des Rheins, den Kornitzer auch erst in seinem nicht mehr jungen Alter entdeckt.