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Und wirklich: Sie finden die Kapelle, und sie ist sogar geöffnet. Bleiche Totenruhe, Schädelmuster in einer soliden Ordnung, die ornamentale Anordnung der langen Knochen der Extremitäten und der Schädel der Toten. Aus den dunklen Augenhöhlen starren sie. Jeder Knochen hat seinen Platz, als wäre über die Jahrhunderte keiner verlorengegangen. Kornitzer hat eine solche Schädelstätte noch nie gesehen und ist beeindruckt. Dann blickt er zu Selma hinüber, die zu zittern begonnen hat, wie bei ihrem ersten Besuch in Mainz. Was hast du denn, Selma? Sie beißt die Lippen aufeinander, dann bricht es stoßweise aus ihr heraus: Zuerst mördern sie Leute, und dann stellen sie die Knochen aus. So sind die Deutschen. Es heißt nicht mördern, es heißt morden, verbessert sie Claire. Aber Kornitzer legt seiner Frau eine Hand auf den Arm: Jetzt nicht. Er wendet sich wieder Selma zu: Es sind ganz normale Tote aus dem Städtchen. Sie sind nicht gemordet worden, sie sind eines natürlichen Todes gestorben. Aber Selma will nicht zuhören. Es sind Juden, es sind Juden, ruft sie gepreßt. Man hat sie gemördert und ist stolz darauf. Es braucht viel Zeit, um Selma wieder zu beruhigen und von ihrer fixen Idee abzubringen. Die Kühle der riesigen spätgotischen Kirche umfängt sie, sie tauchen in ein Orgelkonzert, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Während die Musik perlt und strömt, beginnt Claire plötzlich zu weinen, die Anspannung ist so groß, sie hat das Muttersein fast verlernt, und dieser junge Mann und das große Mädchen brauchen auch keine Mutter mehr. Vorbei.

Und dann sind auch die Sommerferien vorbei, die Koffer werden gepackt, George hat zugenommen, er zeigt sein ausgeleiertes Gürtelschlaufenloch vor und macht ein komisches Gesicht, halb vorwurfsvoll, halb stolz. Und Selma hat sicher auch zugenommen, aber sie will es nicht wahrhaben, und ihre Eltern auch nicht. Selma und George nehmen Geschenke mit, deutsche Bücher, Schallplatten und einen Pullover für den Herbst. Kornitzer bringt die Kinder zum Bahnhof. Als er sich nach dem Winken abwendet und zurückgeht, sieht er zwischen der Geschäftigkeit der Reisenden in der zugigen, rauchigen Luft einen zusammengekauerten, kleinen und offenbar kranken Mann in einem für die Jahreszeit zu warmen Tweedmantel sitzen. Er hat ein spitzes Gesicht und dicke Brillengläser wie der Boden eines Cognacglases. Er kräht etwas, das Kornitzer nur so ungefähr versteht. Etwas wie: So helfen Sie doch. Aber niemand hilft ihm, und es ist auch unklar, wie man ihm grundsätzlich hätte helfen können. Dann kommen Träger mit einer Bahre auf den Bahnsteig. Als Kornitzer die Treppe zur Unterführung der Gleise betritt, hört er jemanden sagen: Das war Döblin, der Vizepräsident unserer Akademie. Und es klang nicht sonderlich respektvoll.

In diesem Sommer las er alles, was er über den Fall Philipp Auerbach in die Hände bekam. Und es verstörte seine Zeit, die doch zur Ruhe kommen wollte. Er hätte Auerbach kennenlernen können, er hätte einfach als Stellvertretender Vorsitzender des Kreisuntersuchungsausschusses für politische Säuberungen im Landkreis Lindau Kontakt aufnehmen sollen mit dem Mann, bei dem die Fäden der Wiedergutmachung in Bayern zusammenliefen, der die Vorstellung hatte, das unrechtmäßig erworbene Gut aus jüdischem Besitz müsse denen zugute kommen, die den Schrecken und die Erniedrigung überlebt hatten. „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“, das war sein Titel, ein einschüchternd mächtiger Titel, dabei war Auerbach nicht einmal verbeamtet zwischen lauter Leuten, die ihr Sitzfleisch und ihre Ausdauer als Beamte schon länger als tausend Jahre bewiesen hatten, und an dieser Beamtenschaft war kein Makel, sie funktionierte jedenfalls. Auerbach hinwiederum hatte das Organisieren im Konzentrationslager gelernt, das Funktionieren im Polizeigefängnis, das begierige und instinktive Handeln unter außergewöhnlichen Bedingungen, denen der Angst, der Erniedrigung. Die Regeln, nach denen eine Behörde geführt wird, hatte er nicht gelernt.

Und während Kornitzer über Auerbach nachsann und über sein Versäumnis, ihm einfach die eigene Arbeitskraft anzubieten, wurde er traurig. Statt nach München zu fahren und zu helfen, hatte er die Apfelbäume betrachtet, die goldgefaßten Heiligen in der Pfarrkirche von Bettnang, er hatte sich ein wenig von den Strapazen der Emigration erholt, während Auerbach nicht daran gedacht hatte, sich von den Strapazen des Konzentrationslagers zu erholen. Chaos herrschte in seiner Behörde in München mit den neunzehn Abteilungen, die sich von der Besorgung von Möbeln und Kleidung für Displaced Persons, die nur schmallippig DPs genannt wurden, der Sonderverteilung von Fahrrädern, Radios, Porzellan, der Vorbereitung der Ausreise der DPs aus Deutschland (je rascher, um so besser, war die landläufige Meinung), der beruflichen Wiedereingliederung von Menschen, die dem Konzentrationslager entkommen waren, bis hin zu Fragen der Entnazifizierung kümmerte. Auerbach war ein Generalist und ein unermüdlicher Arbeiter, despotisch und sanft und hilfsbereit zugleich. Stand er in einer Gruppe von Menschen, überragte er alle. Er hatte das Kaufmännische bei seinem Vater im Chemikaliengroßhandel in Hamburg gelernt, er hatte eine Fachhochschule für Drogisten besucht und sich später als Chemiker fortgebildet. Gleich 1933 war er nach Belgien emigriert, von der einen Hafenstadt zur anderen, Antwerpen zog ihn an. In der Nähe von Antwerpen gründete er eine Import-Export-Firma für chemische Produkte, die zeitweise über zweitausend Beschäftigte hatte. Wie hatte er das geschafft? Das wußte nur er selbst. Als die Deutschen Belgien überfielen, war Auerbach von der belgischen Polizei verhaftet worden, er war nach Frankreich abgeschoben und in Saint Cyprien interniert worden. Durch mehrere Lager schleppten ihn die Franzosen bis nach Gurs. Im November 1942 wurde Philipp Auerbach an die Gestapo ausgeliefert, das war das Schlimmste, was einem deutschen Häftling in Frankreich passieren konnte. Er hatte die Verzweiflung gesehen, aber noch nicht die Hölle. Sobald es möglich war, war er nach seinem KZ-Aufenthalt der Sozialdemokratischen Partei beigetreten.

Kornitzer hätte gleich nach seiner Rückkehr aus der Emigration nach München fahren und Auerbach seine Arbeitskraft anbieten sollen. Aber er hatte auf dem Berg über dem See gesessen und gewartet, was mit ihm geschähe, mit seinem Beruf, seinem zerstückelten Leben. Er hätte. Er hätte. Er war nun in Rheinland-Pfalz, und Philipp Auerbach war in Bayern, und seine hohe und komplizierte Mehrfach-Funktion war von Anfang an prekär und auch als eine solche prekäre konstruiert worden. Kornitzer mit seiner guten juristischen Vorbildung, seinen vorzeigbaren Zeugnissen und seiner Geschichte war besser gesichert, auch weniger schillernd, vielleicht hätte er dem Mann in München 1949 einfach eine brüderliche Hand reichen sollen. Aber seine Hände waren ihm schwer geworden, zögerlich, seine Hände blätterten durch Akten. Ja, er hätte von Lindau aus sofort, als er den Namen Philipp Auerbach gelesen und seine Funktion begriffen hatte, einen Brief schreiben sollen, einen nahen, aber auch distanzierten Brief. Er hatte ja keine Wünsche und Forderungen, die die bayerische Landesregierung ihm erfüllen sollte. Bayern war damals noch amerikanische Zone, und er war in Lindau zufälligerweise bei den Franzosen gelandet, die anders entschieden und nicht diese gewaltige Masse von DPs zu versorgen hatten, die, aus den Lagern kommend, nach Süden geströmt waren, vielleicht von der Idee der amerikanischen Retter angezogen.