Dem Recht wohnt beides inne: das Erinnern und das Vergessen. Kornitzer hatte diese Zeit ja nicht erlebt, das kam ihm jetzt wie ein Makel, ein sträfliches Unwissen vor. Er hatte sich in Lindau als arbeitssuchender Jurist gemeldet und nicht recht begriffen, warum es so lange dauerte, bis man ihn und seine Qualifikation brauchte. Dann hatte man ihn gebraucht, man konnte sich nicht übermäßig mit Ruhm bekleckern, nicht einmal das eigene Gerechtigkeitsgefühl war gestillt in der Arbeit der Spruchkammern. Er hatte die Vorstellung gehabt, vieles, was ihn kränkte, sei auf eine bestimmte süddeutsche Art, die er als Preuße nicht ganz nachvollziehen konnte, einfach vergessen oder verschlampt worden, dazu konnte man schwerlich etwas sagen. Am klügsten war es, so schien es ihm damals, einfach abzuwarten. Und warum er dann aus Lindau den Ruf nach Mainz bekam, wo er keine Menschenseele kannte, war ihm selbst sonderbar vorgekommen. Aber sonderbar und wunderbar waren keine übermäßig verschiedenen Begriffe. Er mußte sich selbst, nachdenkend, vordenkend, nicht wirklich entscheiden.
Er hatte gelesen, daß Philipp Auerbachs Dienststelle in München täglich von sechzig bis hundert Besuchern belagert worden war. Er hatte gelesen, daß Auerbach den Landtag, die Münchner Stadtverwaltung mit Petitionen und Beschwerden überschüttete. Auerbach schrieb rasch, energisch und gut (wo hatte er das gelernt? nicht im Konzentrationslager), er schrieb nicht wie ein Verwaltungsmensch, nicht wie ein Staatssekretär, er schrieb persönlich. Es erfüllt nicht nur mich, sondern alle Kreise aus dem In- und Ausland, die den Glauben an eine gerechte Wiedergutmachung gehabt haben, mit tiefem Schmerz und noch größerer Sorge, daß man den kleinen Waggon „Opfer des Nationalsozialismus“ auf das fünfte Nebengleis eines an sich schon schwer zugänglichen Verschiebebahnhofs gestellt hat. Er konnte Anregungen aus dem Hut zaubern, eine Moralkeule schwingen, Druck auf die Verantwortlichen in den deutschen Verwaltungen, auf die Militärregierung und auf die Interessenorganisationen der Verfolgten ausüben, das gefiel nicht jedem, und je länger er Druck machte, gefiel es niemandem. Er erhielt Drohbriefe und antisemitische Schmähungen und ließ sie abheften.
An einem bitterkalten Januartag 1951 hatte die bayerische Polizei handstreichartig das Gebäude des Landesentschädigungsamtes in der Arcisstraße besetzt, Akten beschlagnahmt, um sie auf Fälschungen oder Betrügereien zu untersuchen. Am 10. März 1951 war Auerbach, als er von einer Konferenz in Bonn zurückkam, auf der Autobahn nach München verhaftet worden; es war ein dramatischer Akt. Einen Schwerverbrecher verhaftete man so. Gegen Auerbach wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, die Ermittlung des Oberstaatsanwalts ergab aber, daß für Untreue im Sinne einer Unterschlagung von Staatsgeldern kein Anhaltspunkt bestehe. Trotzdem blieb er in Haft, und kein Mensch fragte warum. Die jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik hatten sich schon von ihm distanziert, aus Angst, daß sein Verbleiben im Amt dem Ansehen der Verfolgten schaden könnte. Als wäre er gefährlich. Als wäre der, der versuchte, den Entrechteten zu ihrem Recht zu verhelfen, einer, der die Rechtsnormen verletzte. Kornitzer sah ein Bild von Auerbach in einer Zeitschrift, da saß er an seinem Schreibtisch, ein raumgreifender Mann in einem zweireihigen Anzug, aus der Brusttasche ragte eine Reihe von Stiften, ein raumgreifender Schreibtisch, vor ihm Teile aus Hitlers Nachlaß, hieß die Bildunterschrift. Bild und Unterschrift suggerierten: Auerbach wühle unberechtigterweise in der Vergangenheit, ein Jude habe sich Hitlers Nachlaß gesichert, habe sich selbst zum Erben gemacht und: Kaum daß das Erbe Hitlers, Görings und Goebbels’ in den Nürnberger Prozessen und mit der neuen Staatsgründung gerichtet worden war, griffe ein Jude nach der Macht. Es war ein obszönes, ekelhaftes Bild, und Kornitzer fragte sich, ob man dagegen presserechtlich vorgehen könnte. Und er fragte sich auch, warum Auerbach sich so hatte photographieren lassen. Aus Geltungssucht? Aus Naivität?
Ein paar energische Telephonanrufe zwischen Mainz und München ergaben: Der Staat Bayern ist der Erbe Hitlers, er besitzt auch die Urheberrechte an „Mein Kampf“. Das war erstaunlich, hatte aber reale Gründe. Ein ermittelnder Richter an einem Zivilgericht war ein freier Mensch, er war unabhängig und konnte in jene Richtungen ermitteln, die ihm notwendig und wichtig erschienen. Nur konnte er kein Verfahren an ein Gericht ziehen, an dem es wegen des Erscheinungsortes der Publikation nicht anhängig sein konnte. Der Richterstand machte Kornitzer frei, aber die Ermittlung, die er einleiten wollte, führte zu nichts. Ihm waren die Hände gebunden.
Kornitzer las nicht nur alles, was er in die Hände bekommen konnte. (Ja, er fraß es, stopfte es hinein, und es tat ihm nicht gut.) „Der Spiegel“ hatte am 14. Februar 1951 einen sensationsheischenden Artikel über Auerbach gebracht, der kaum ein Klischee ausließ: Schwarzer Dienst-BMW — Tageslauf des Betriebsamen — Hunderte von Besuchern — Postdiktat, Unterschriften und Anweisungen, die über seine Tisch-Mikrophonanlage gingen — wie Cäsar gleich vier Schreibern Arbeit gab — massig im Oberhemd mit Brasil hinter seinem Tisch — Cäsar der Wiedergutmachung. Der Mann war ein rotes Tuch. Zwischenüberschriften wie: Fälschung und Gegenleistung — Kredit auf KZ-Lager — Ich bin der Präsident — Geld genommen — Wiedergutmachungsgeschäft deuteten unmißverständlich darauf hin, hier wurde vorverurteilt, und alles lief darauf hinaus, der Jude war geldgierig, er betrog die Deutschen, er täuschte Mangel vor. (Auch Auerbach war Deutscher.) Es gab Kriegsgewinnler, und so mußte es nach aller verdrehten Logik auch Wiedergutmachungsgewinnler geben, solche, die Blut saugten aus der Niederlage der Nationalsozialisten, so stellte man sich das vor.
Kornitzer knallte die Zeitschrift zuhause auf den Eßtisch, zwang Claire förmlich zu lesen. Er hatte sich ein feines Arbeitszimmer im oberen Stockwerk des neuen Hauses eingerichtet, mit Blick auf das Rasenviereck, aber es stellte sich bald heraus, daß er doch am Abend lieber bei Claire im Erdgeschoß blieb, in ihrer Nähe. Vielleicht weil er sich im Dachzimmer in Bettnang an das enge Zusammensitzen gewöhnt hatte, vielleicht auch aus Neigung, Zutraulichkeit, Liebe. Verstehst du das? Verstehst du, warum man diesen Mann so hetzt? fragte er Claire. Claire verstand es und sagte es auch: Es ist der blanke Antisemitismus. Kornitzer hatte es auch verstanden, aber er wollte es lieber aus dem Mund seiner Frau hören. Mit Claire abends zusammenzusitzen, war ein Schutz gegen sein ramponiertes Weltbild, eine Rückversicherung. Er glaubte, sie zu verstehen, und er glaubte, sie verstünde ihn. Verstehst du das? Verstehst du das? Manchmal schwiegen sie einfach oder hörten Musik. Ja, sie verstanden sich gut.
Eine Haftbeschwerde der Rechtsanwälte Auerbachs lehnte das Gericht am 16. Januar 1952 ab. Die Strafsache an der 1. Strafkammer des Landgerichts München hieß: Amtsunterschlagung u. a. Der aufsehenerregende Prozeß begann am 16. April 1952, dem zweitletzten Tag von Pessach, es war wie eine Provokation für einen jüdischen Angeklagten und seinen jüdischen Verteidiger. Prompt hatte die Verteidigung vor Beginn der Hauptverhandlung eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht wegen Verletzung der Religionsfreiheit eingelegt. Der Vorsitzende Richter wartete aber nicht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ab, sondern vertagte die Hauptverhandlung auf den 18. April. Der Richter, der außerplanmäßig den Vorsitz übernommen hatte, war ein ehemaliger Oberkriegsgerichtsrat, der Vorsitzende Richter, die Staatsanwälte, ein weiterer Beisitzer und der psychiatrische Gutachter waren Mitglieder der NSDAP gewesen; befangen fühlte sich niemand von ihnen gegenüber dem Überlebenden von Auschwitz. Der psychiatrische Gutachter nannte Auerbach einen pseudologischen Psychopathen und Phantasten in chronologisch gehobener Stimmungslage (meinte er chronisch, und warum unterlief einem Psychiater dieser bemerkenswerte Lapsus, an welche Zeit, an welche Zeitabläufe fühlte er sich gekettet?), er nannte Auerbach weiter: in der Pubertät steckengeblieben, impulsiv, wehleidig, hysterisch. Es war schon eher eine Beschimpfung als eine Diagnose. Für vermindert zurechnungsfähig hielt er ihn allerdings nicht. Von allen Anklagepunkten blieb letztlich nur übrig, daß Auerbach zu Unrecht einen Doktortitel getragen hatte und die Mittel für die Entschädigungszahlungen am Rande der Legalität auf unorthodoxe Weise besorgt hatte.