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Am 26. Verhandlungstag, am 3. Juni 1952, wurde der Haftbefehl gegen Auerbach aufgehoben. Nach 55 Verhandlungstagen wurde die Beweisaufnahme geschlossen. Kornitzer kaufte sich die „Frankfurter Hefte“ und las darin ein Plädoyer eines Christen für einen jüdischen Angeklagten. Das hörte sich gut an. Auch die Vorstellung des christlichen Verfassers, daß dieser Prozeß gegen einen Juden (…) aufs engste mit der Geschichte unseres Volkes zusammenhängt, war richtig. Doch dann machte der Aufsatz eine Volte, und der Autor bat das Gericht: Entlassen Sie ihn (Auerbach) mit einer Botschaft an den Präsidenten des Staates Israel mit der Bitte, dieser möge über Schuld oder Unschuld des Angeklagten befinden, nachdem das deutsche Volk im Augenblick noch das Recht dazu verwirkt hat. Kornitzer las das und schäumte vor Zorn. Da wollte jemand großherzig und reumütig einen deutschen Staatsbürger nach Israel schicken. Ein Mann sollte, weil die Deutschen so unfähig waren, ihm gerecht zu werden, höflich des Landes verwiesen (hinauskomplimentiert) werden. Wann würde man ihm, Kornitzer, höflich nahelegen, sein Platz wäre doch eher in Israel? Den Antisemitismus, den das Münchener Landgericht nicht in seinen eigenen Kammern bändigen konnte, sollte Israel heilen. Ein Staatspräsident als Pseudo-Richter. War es nicht an der Zeit, in Deutschland reinen Tisch zu machen? Hatte der Autor nicht das Grundgesetz gelesen? Ihm sträubten sich die Haare, und sein juristischer Fachverstand rebellierte. Und während Kornitzer dieses gutgemeinte Plädoyer in der ehrenwerten Zeitschrift immer wieder las, spürte er einen scharfen Schmerz im Oberkörper, der bis in den Arm ausstrahlte. Jetzt sterbe ich, dachte Kornitzer, jetzt über diese Zeitschrift gebeugt, mit knapp fünfzig Jahren. Ich erleide einen Herzinfarkt, er beobachtete sich selbst, und er wunderte sich nicht. Dann verging ein wenig Zeit, er saß immer noch auf seinem Schreibtischstuhl und war offenkundig nicht gestorben. So rasch wie der Schmerz gekommen war, verschwand er wieder. Hätte man ihn einen Tag vorher gefragt, was er über das Sterben mit knapp fünfzig dächte, er wäre in Panik geraten. Jetzt, im nachhinein, kam ihm der Anfall fast vernünftig vor, eine logische Folge seiner Erregung. Claire, das beschloß Kornitzer, wollte er nichts von dieser Attacke sagen. Sie sollte sich nicht ängstigen.

Vier Monate dauerte der spektakuläre Prozeß, die Verteidigung plädierte in den wesentlichen Punkten auf Freispruch und Einstellung des Verfahrens. Das Plädoyer nahm sechzehn Stunden in Anspruch. Am 14. August — Kornitzer hatte gerade einen Ausflug mit George und Selma nach Speyer gemacht, von dem ihm beschämenderweise kaum eine Erinnerung blieb — wurde Auerbach wegen einer Reihe von Einzeldelikten — Unterschlagung, Bestechung, Meineid und Vortäuschung eines Doktortitels — zu einer Gesamtstrafe von zweieinhalb Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 2.700 DM verurteilt. Auch einige seiner Mitarbeiter wurden verurteilt. Stehend, im schwarzen Anzug, nahm er gefaßt das Urteil entgegen, ein Urteil ohne Ansehen der Person. In der Nacht nach seiner Verurteilung verübte Philipp Auerbach im Krankenhaus Josephinum mit einer Überdosis Luminal Selbstmord, sein Tod wurde am 16. August um 11.45 Uhr festgestellt.

Im Polizeibericht über seine Beisetzung hieß es — nahe am NS-Sprachgebrauch —, die Polizisten säuberten den Eingang zum Friedhof und das eigentliche Friedhofsgelände. Mit Hilfe von Wasserwerfern sprengten sie die Veranstaltung, die eine Beisetzung eines Toten war. Zwei in Reserve gehaltene Hundertschaften der Bereitschaftspolizei mußten nicht mehr eingesetzt werden, las Kornitzer. Zuerst hatte er sich verlesen, er hatte Hundestaffeln statt Hundertschaften gelesen und war über sich selbst erschrocken. Vor George und Selma versuchte er seine Erregung zu verbergen. Ja, er verstand die Kinder so gut, daß sie sich vor Deutschland fürchteten, und würden sie es besser kennen, hätten sie noch mehr Berechtigung zur Furcht — wie ihr Vater. Der Untersuchungsausschuß des Bayerischen Landtages zum Fall Auerbach rehabilitierte ihn letztlich im vollem Umfang. Das war nur noch eine kleine Nachricht nach den Sensationsmeldungen. Von einer Veruntreuung, von einer Bereicherung auf Staatskosten konnte keine Rede sein.

An einem ruhigen Nachmittag wollte Kornitzer in der Bibliothek des Landgerichts die Fachzeitschriften durchblättern. Auf einem der Tische fand er ein Buch aufgeschlagen; es zog Kornitzer magisch an. Einer seiner Kollegen hatte eine Wendung unterstrichen, die Jahre des ‚ungekrönten Königs von Bayern‘ Philipp Auerbach, und es war kein Zweifel, daß der Verfasser befriedigt war, daß diese Jahre vorüber waren. (Und der, der die Wendung unterstrichen hatte?) Er sah nach dem Titel des Buches: Das Wesen der Spruchkammern und der durch sie durchgeführten Entnazifizierung. Ein Rechtsgutachten von Dr. Otto Koellreuther. Er las Sätze wie: Es wäre leicht nachzuweisen, daß in Spruchkammer-Fällen als öffentliche Kläger oder Spruchkammer-Mitglieder tätige Juristen sich in dieser Funktion nicht als Juristen, sondern als politische Funktionäre gefühlt und dementsprechend gehandelt hatten. Und: Die persönliche Unabhängigkeit der Richter gehört, entgegen der Ansicht des OLG München, notwendig zum Wesen der Rechtspflege im Rechtsstaat. Von einer solch persönlichen Unabhängigkeit der Spruchkammer-Mitglieder kann schon deshalb nicht gesprochen werden, weil die Spruchkammer-Mitglieder einer ganz bestimmten Schicht, den Gegnern des Nationalsozialismus und Militarismus, entnommen werden mußten. Und weiter mußte er lesen, daß gewisse Kreise das Entnazifizierungsverfahren zur Befriedigung ihrer Rachegelüste und persönlichen Haßgefühle mißbrauchen wollten. Und daß es sich bei den meisten Vorsitzenden und Klägern der Spruchkammern in erster Linie um politische Fanatiker handelte, nicht um Menschen, denen die Erforschung des Rechts über alles geht. Und so wurde weitergehetzt und diffamiert. Es war ein massiver Angriff auf das erst ansatzweise wiedergewonnene Rechtsgefühl. Es war kein Rechtsgutachten, es war eine Anstiftung zum inneren Unfrieden. Der Staatsrechtler erlaubte sich eine rückwärts gewandte Richterbeschimpfung. Sie war niederschmetternd.

Das aufgeschlagene Buch zu finden, traf Kornitzer, es traf ihn so sehr, daß er überlegte, wer von den Kollegen im Landgericht diese Schrift, die ihm wie ein Feuerwerkskörper in der Hand explodierte, auf den Bibliothekstisch gelegt hatte. Es mußte auch jemand für die Anschaffung plädiert haben. War es Dr. Buch mit seinem breiten Kreuz und seiner Sicherheit, mit der er seine Zurücksetzung glorreich überstanden hatte? War es Landgerichtsrat Beck mit seinem nervösen Zwinkern, der Rachegründe hatte? Es war nicht Kornitzers Art, jemanden zu verdächtigen. Oder erwartete niemand von den Kollegen, daß er sich ebenso wie die anderen kundig machte über die neuere Rechtsprechung und die Bibliothek benutzte? Hielten sie ihn für ein Fossil, stehengeblieben wie eine Uhr, stehengeblieben in der bürgerlichen Rechtsprechung der Weimarer Republik? Er informierte sich über den Verfasser des kleinen Buches aus einem Göttinger Verlag, ja, Otto Koellreutter gehörte schon 1932 zu den Unterzeichnern eines Aufrufs von Hochschullehrern, bei der bevorstehenden Reichstagswahl die NSDAP zu wählen. Er war neben Carl Schmitt einer der führenden Staatsrechtslehrer mit einem Lehrstuhl in München, ein Theoretiker des Führerstaates. Erst die amerikanische Militärregierung enthob ihn 1945 seines Amtes. 1949 war seine Amtsenthebung rückgängig gemacht worden, mit seinen Bezügen wurde er in den normalen Ruhestand eines emeritierten Professors versetzt, er hatte die Altersgrenze erreicht. Jetzt war er ein Mann von über siebzig Jahren, der herumdröhnte und Schmutz verbreitete. Und er wurde gedruckt. Er wurde im Landgericht von einem seiner Kollegen oder von mehreren gelesen. (Nicht nur das, in seinem Text wurde gearbeitet. Angestrichen!) Die Schrift endete mit einer Apotheose des guten Richters, die zum Lachen oder zum Entsetzen war: Welche Eigenschaften, welche Haltung muß der Richter haben, wenn er den ethischen Anforderungen seines Berufsstandes entsprechen will? Der Richter muß in erster Linie Mensch sein, er muß als solcher Verständnis, Güte und Humor auch für menschliche Schwächen zeigen. War das unbedingte und frühzeitige Eintreten für die NSDAP eine menschliche Schwäche? Kornitzer grübelte, und er war allein mit seinen Gedanken und las weiter: Deshalb unterliegt der politische Irrtum niemals der richterlichen Beurteilung. Wer sich politisch geirrt und damit vielleicht sein Volk geschädigt hat, kann und muß unter Umständen aus dem politischen Leben ausgeschaltet und damit politisch unschädlich gemacht werden, aber irgendwelcher strafrechtlichen Beurteilung unterliegt er nicht. Der echte Richter wird deshalb eine Verurteilung wegen politischen Irrtums immer ablehnen, wenn nicht in seinem Gefolge strafrechtliche Tatbestände zur Beurteilung stehen.