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Kornitzer klappte das Buch zu, stellte es ins Regal und setzte sich wieder an den Bibliothekstisch. Draußen knatterte eine Betonmischmaschine, es war ein monotones Geräusch, ein regelmäßiges Bollern, das einem den Kopf durcheinanderwirbelte. Kornitzer hörte auf das Geräusch und bemühte sich gleichzeitig, es zu überhören. Aber das Ohr ist kein Organ, das vom Willen regiert wird. Mainz war jetzt ein dauerndes Rumoren, Baggern, Wühlen. In der offiziellen Sprache hieß so etwas: Die Abräumungsarbeiten sind beendet. Das Kellermauerwerk ist entfernt und die Hohlräume sind bis in Gehweghöhe mit Feinschutt verfüllt worden. Es ist nichts mehr zu veranlassen.

Am besten war es, man verhielt sich mucksmäuschenstill, man tat seine Arbeit, man fiel nicht auf, gab sich nicht als ehemaliges Mitglied einer Spruchkammer, als Jude, als Trauernder um Philipp Auerbach zu erkennen, gab keinen Anlaß, antisemitische Äußerungen, Taktlosigkeiten, Nadelstiche auf sich zu ziehen. Am besten, man war wortkarg, sah nicht nach links und nicht nach rechts und tat seine Arbeit. Am besten, man war tot. (Kornitzer wollte nicht denken: Am besten tötete man sich selbst wie Auerbach, obwohl auch darin eine schmerzende Logik war.) Es mußte eine Genugtuung für alle verkappten Feinde der Bundesrepublik, für alle verstockten Deutschen sein: Wer dem Konzentrationslager entkommen war, wer aus der Emigration nicht wirklich angekommen war in dem Land, das er verlassen hatte, verschwand wieder sang- und klanglos, putzte sich selbst weg, aus Scham, aus Traurigkeit, aus Erbitterung, aus Ekel. Es war ein Gedanke, den er sich zu denken verbot. Aber er kam wieder, ungefragt. Es gab Gedanken, die ein Richter nicht denken sollte. Und es gab Fragen, die ein Historiker nicht stellen durfte, weil sie metaphysisch sind. Und es gab Antworten, die niemand zu geben imstande war.

Sein Herz ausschütten, das war es nicht, was er wollte. Das Herz mußte versteinern. Nun war die Aufarbeitung schlecht und recht getan, war ein Torso geblieben, und alles, was ihn freute an seiner Arbeit, am Fortschritt beim Zusammenflicken seiner Familie, bei den persönlichen Angelegenheiten, schien plötzlich im Sumpf zu stecken. Da blühten sie, Sumpfdotterblüten über den Bombentrichtern auf den Wiesen am Rhein, in denen sich das faulige Wasser sammelte und Mücken brüteten. Zog er die Richterrobe an für die Verhandlungen, fühlte er sich sicher. Zog er sie aus und ging die langen Flure des Landgerichts entlang, grüßte er nach allen Seiten und fühlte sich nackt.

Die Kinder kamen jetzt regelmäßig in den Ferien. (Aber wie lange noch?) Es war ein leichtes Zittern, ob sie kämen, eine Erleichterung, wenn sie sich anmeldeten. Von allen Familienmitgliedern war viel Einfühlungsvermögen verlangt. George hatte keinen Studienplatz in Cambridge bekommen, und es schien ihn nicht einmal sonderlich zu kümmern. Er besuchte jetzt eine Ingenieurschule und war damit zufrieden, jedenfalls sagte er nichts anderes. Er sagte überhaupt wenig, hörte aber gerne mit schief gehaltenem Kopf, als ob er sich so besser konzentrieren könnte, den deutschen Gesprächen zu. Selma hatte den Entschluß gefaßt, auf eine landwirtschaftliche Hochschule zu gehen. Sie wollte Bäuerin werden, was immer das bedeutete. Und schon im Eingangsgespräch, als sie sich bei einer Hochschule bewarb, machte man ihr klar: Sie haben keinen Hof im Hintergrund. (Mit anderen Worten: Sie sind keine geborene Bäuerin. Sie sind nicht bodenständig. Sie sind keine Britin. Sie werden an dieser Hochschule so ausgebildet, daß Sie einen Hof als Pächterin übernehmen könnten.) Und — ja, das klang sehr frauenfeindlich und war es auch, aber es entsprach den Tatsachen — wir, die Hochschul-Landwirte, müssen Sie darauf aufmerksam machen, kein Mensch wird Ihnen nach Abschluß des Studiums einen Hof anvertrauen. Sie werden studiert, präpariert, wie ein Ochs vor dem Berg stehen. So ungefähr drückten sich die landwirtschaftlichen Herren im feinsten, gewähltesten Englisch aus. Wie ein Ochs vorm Berg. Selma hatte sich das ruhig angehört. Sie wollte das nicht wissen und viel weniger noch akzeptieren, aber so war es. Man schlug ihr vor, es mit dem Gartenbau zu versuchen. Gemüse und Blumen, das sei doch weiblicher. Aber sie wollte Landwirtschaft studieren, die Kühe, die Lämmer, die Pferde hatten es ihr angetan. Als Berliner Pflanze wollte sie eine graduierte, prämierte Bäuerin werden, der Begriff Agronomin war ihr unbekannt. Vermutlich, dachte ihr Vater, möchte sie mit Mrs. Bosomworth, der so geliebten Pflegemutter, die weggezogen war nach Sansibar, mit Mrs. Hales, die sie enttäuscht und der sie verziehen hatte, konkurrieren und sie übertrumpfen. Beide hatten vermutlich keine landwirtschaftliche Ausbildung, sondern waren in das Bauernleben mit ihrer Eheschließung wie ins kalte Wasser gesprungen, wenn das nicht eine inakzeptable Beschreibung einer Liebesbeziehung war, die nun mal mit einem Mann, einem Hof und Tieren und allerhand sonst zu tun hatte. (Oder waren sie Bauerntöchter? Mrs. Hales hatte jedenfalls nicht so gewirkt.) Auch Kornitzer schlug heimlich die Hände über dem Kopf zusammen, die Großmutter noch in einer Prachtwohnung am Kurfürstendamm, ein promovierter Vater aus einer Ku’dammseitenstraße, und die Tochter möchte ihr Leben mit der Forke in der Hand bestreiten. Nun ja, ein wenig Dünkel war auch dabei. Und er bemühte sich, so ruhig wie möglich Selma auseinanderzusetzen, daß eine Ausbildung, eine Fachrichtung, deren Wissen man mit dem Kopf überall hintragen könnte, die beste sei. Sieh mich an, Selma, ich mußte Deutschland verlassen und brachte meinen juristischen Sachverstand nach Kuba und zurück in ein anderes Deutschland.