Einer der letzten Stummfilme, die die Filmgesellschaft Terra gebracht hatte, war zum Niederknien, aber wer kniet schon, wenn er sehen, aufsaugen möchte. Er schob eine Schauspielerin in den Mittelpunkt, einen Augenaufschlag, einen Atem, eine Gewißheit: Dies ist zweifellos eine Frau, nach der man sich sehnt. Und Marlene Dietrich war diese Frau, sie verkörperte sie nicht nur, sie suggerierte, sie sei als Objekt der Sehnsucht greifbar, fühlbar, verfügbar, und sie sehnte sich auch von der Leinwand herunter nach diesem, ja genau nach diesem Zuschauer im Publikum. Und jeder glaubte, dieser eine zu sein am Beginn und am Ende einer Massenpsychose, die nicht mehr eine Frau betraf, sondern universell geworden war, eine Führergestalt suchte, jemanden herbeisehnte, der alles gut machte, was schlecht war und beleidigend und kränkend. Die Frau allerdings, die hinter Rauchdunst und einem Waggonfenster als das Inbild einer Reisenden, einer Flüchtigen erscheint, schaut ins Unbestimmte. Sie staunt darüber, was sie anrichtet, sie hat doch nichts getan, sie hat sich ausgestellt, sie hat sich ausstellen lassen, sie hat Sehnsucht geweckt. Sie ist eine Projektion, wie die Filmleinwand als solche eine Projektion aufnimmt und widerspiegelt. Sie sieht den Sehnsüchtigen nicht an, den infantil und inflationär Sehnsüchtigen. Sähe sie ihn an, sie müßte ihn mitleidig ansehen, aber er hat doch eine Kinokarte erworben, er bezahlt s i e, und sich dies vor Augen zu führen in aller Drastik, wäre doch eine Peinlichkeit. Wenn der Kinozuschauer nicht weiß, daß er eine Massenerscheinung ist, die die Einzelne, die Einzige in Bann schlägt, nun ja, dann hat er das neue Medium, den suggestiven Film, noch nicht verstanden. (Und dies ist der letzte Stummfilm, nun ist es zu spät zum Verstehenlernen.) Der Blick der Schauspielerin trifft ihn ins Mark, wie ein Ruf, wie ein Schicksal. Du mußt dein Leben ändern. Aber das Kinogehen hat dein Leben schon geändert, wenn du das Kino-Universum verläßt, stehst du auf der Straße mit deiner unbestimmten Sehnsucht. Die Frau, nach der man sich sehnt, ist nur im Kino, und der Zuschauer, der den geraden, den gefährlichen Weg der Liebe geht, der das Leben wagt und die Liebe hopp nimmt in einer leidenschaftliche Gesten, weiß nichts, erfährt nichts und leidet. Ob die Frau, nach der er sich sehnt, Hingabe spielt oder seine Projektion ist, er weiß es nicht. Er weiß auch nicht viel über seine eigenen Gefühle, die Bilder strudeln darüber hinweg. Er ist allein in der Menge der Kinogänger, jeder, der sich sehnt, ist allein. Er hat die Gewißheit verloren, als Mensch an eine Wirklichkeit gebunden zu sein. Der Schein, die sprachlose Wirklichkeit, die wortlose Verführung zum Sehnen legt sein Empfindungsvermögen lahm. Oft sieht Marlene Dietrich ganz unbeteiligt aus, als ginge alles, was rund um sie und ihretwegen geschieht, sie gar nichts an. Das ist die Sehnsucht, das ist der Leerlauf, ein auf sie gerichtetes Geschoß bleibt stehen in der flirrenden Luft, sie taucht in das Geschehen, taucht in einen Tod, als wäre er ein Elixier. Sie badet darin, eine Nixe in einem dunklen Gewässer. Und wer sie sieht, sieht nur das Rätsel und die Bedingungslosigkeit, sich im Rätsel aufzulösen und zu zersetzen. Die Frau, nach der man sich sehnt, ist eine sprachlose, eine stumme Erschütterung.
Dann kam der Tonfilm, und auf den Straßen fing das Brüllen an. Es wurde demonstriert, marschiert. Wer nicht einverstanden war mit dem Brüllen auf den Straßen, den Aufmärschen, zog sich hinter die Gardine zurück, schwieg, schwieg indigniert. (Oder saß auf gepackten Koffern, um das Land sofort zu verlassen im Falle, daß.) Er würde vorübergehen, der Spuk. Die Gegner des Brüllens mußten selbst brüllen, damit sie gehört wurden. Das verzerrte die Züge. Der Tonfilm dagegen hatte natürliche Feinde, die Artisten-Loge und den Deutschen Musikerverband. Vom Ku’damm brachte Claire ein Flugblatt mit, das ihr in die Hand gedrückt worden war, zu Hause studierte sie es sorgfältig.
Gegen den Tonfilm!
Für lebende Künstler!
An das Publikum!
(Alles war fett unterstrichen, überdeutlich.)
Achtung! Gefahren des Tonfilms!
Viele Kinos müssen wegen der Einführung des Tonfilms und dem Mangel an vielseitigen Programmen schließen!