Zwangsarbeiter, Zwangsarbeiter, klingelte es abends beim Einschlafen in seinem Kopf. Ich habe meine Frau zur Anerkennung des Begriffs Zwangsarbeiter gezwungen, wo sie von dem polnischen Knecht, wie vermutlich alle Deutschen, sprechen wollte. Aber er, Kornitzer, war auch deutsch! Er war ausgebürgert worden, also mußte er sich schlaftrunken mit sich selbst auf einen so banalen Begriff wie „alle Deutschen im Lande“ beschränken. Oder sollte er sich dazu versteigen, in seinem Kopf von „allen Deutschen, die vom herrschenden Nationalsozialismus infiziert waren“, zu denken? Das schlösse auch seine Frau ein, die er ausnehmen wollte, die er ausnehmen mußte. Die Frage irritierte ihn, er sah sich als Bezwinger mit guten Gründen, aber das machte nicht froh, so nahm er schlaftrunken den Arm seiner Frau, der ihm am nächsten lag und knetete ihn, obwohl er ihn eigentlich nur streicheln wollte, aber die innere Anspannung, Claire Unrecht getan zu haben, ließ ihn wohl kräftiger zupacken, und Claire stieß einen Laut aus, den sie im Wachzustand wohl nicht über die Lippen gebracht hätte, einen tiefen, schnaubenden Seufzer wie ein Pferd, und dann merkte er auch an dem Arm, den er weiter in seiner Hand behielt: Claire schlief schon längst. Und Kornitzer, noch lange schlaflos, sagte sich: Ich habe an ihr unlauter gehandelt. Das klang gut, auch befreiend, aber es war wiederum kein juristischer Begriff. Er dachte noch ein bißchen nach, ob er einen solchen, der wirklich paßte, nachschieben könnte, es war wie eine innere Verfassungsbeschwerde gegen sich selbst. Er fand keinen passenden Begriff, nun ja: „Nötigung zur Verständigung“ wäre noch am passendsten gewesen. Aber die Nötigung konnte auch billigend als eine Einladung zu einer Rechtsgemeinschaft aufgefaßt werden, die er ohnehin schon mit seiner Frau bildete. Daß er sich seiner Frau gegenüber nicht strafbar gemacht hatte, wußte er selbst, auch so schlaftrunken wie er war. Aber es gab einen Schatten, der nicht moralisch oder ethisch zu bewerten war, sondern auf einer Ebene, die er doch gerne auf dem Feld seiner Fachwissenschaft verorten wollte.
Als er sich sicher eine Stunde im Bett gewälzt hatte, nahm er ein zweites Mal vertrauensvoll den ihm am nächsten liegenden Arm seiner Frau und behielt ihn umfaßt, als wäre er eine Schlummerrolle, etwas, an dem er sich ohne Bedingungen anklammern konnte, das tat er, und seine Frau machte am Morgen den Eindruck, als hätte sie von all diesem Denk- und Gefühlsaufwand nicht das Geringste mitbekommen, was erleichternd war, aber auch ein bißchen unheimlich.
Wie hatte Claire Kornitzer ihren Mann wiedergefunden? Das war eine lange Geschichte. Im Amtsblatt hatte sie einen Aufruf gefunden, der sie elektrisierte.
Deutsche jüdischer Konfession
Zur Vorbereitung der Wiedergutmachung des den deutschen Bürgern jüdischer Konfession oder Abstammung zugefügten moralischen und materiellen Unrechts wird die Erfassung des fraglichen Personenkreises durchgeführt. Sämtliche im Kreis Lindau (B) wohnhaften deutschen Bürger jüdischer Konfession oder Abstammung werden hiermit aufgefordert, bis spätestens 20. Januar 1946 ihrem zuständigen Bürgermeister schriftlich Meldung zu machen nach folgendem Muster:
Zu- und Vorname
Ob Volljude (im Sinne der Nürnberger Gesetze oder Mischling I. oder II. Grades)
Geburtsort und — tag
Letzter Wohnsitz
Familienstand
Früherer Beruf
Jetziger Beruf
Gesundheitliche Schäden
Vermögensverluste
Die Bürgermeister legen die Meldungen gesammelt bis längstens 1.
Februar 1946 dem Landrat vor.
Der Landrat: gez. Dr. Eberth
Die Ausschreibung traf nicht auf Claire Kornitzer zu, aber sie war wie ein Haltegriff, ein Rettungsring, eine Gewißheit, daß sie gehört werden würde und daß sie ihrem Mann, auf den die Ausschreibung zutraf, Gehör verschaffen würde. Nur: Sie hatte keine Vorstellung über die Mittel, mit denen ihr Mann sie finden konnte und sie ihn. Sie hatte auch keine Vorstellung, wie viele Menschen sich im Landkreis auf diesen Aufruf melden würden. Die Meldefrist war äußerst knapp bemessen, man mußte sich auf den Hosenboden setzen, um die Unterlagen zusammenzutragen und sorgsam aufzulisten. War die Frist so knapp, weil es plötzlich — gut ein halbes Jahr nach Kriegsende — peinvoll war, daß bis jetzt niemand nach Juden gefragt hatte (als hätte sich das „Judenproblem“ in Auschwitz, in Majdanek erledigt), oder war die Frist deshalb so knapp bemessen, damit sich nur wenige Zurückgekehrte oder aus den Verstecken Gekrochene melden konnten? Claire rätselte darüber, kam aber zu keinem Schluß.
Daß nur 681 Juden in der Französischen Zone überlebt hatten, konnte sie nicht wissen, und hätte sie es gewußt, wäre sie nicht verwundert, nur todtraurig gewesen.
Gleich neben dem Aufruf hatte sie eine Anzeige gefunden: Großer Rucksack mit Lederriemen gegen einen Meter trockenes Tannenoder Buchenholz zu tauschen gesucht. Ja, Brennholz war gesucht, aber Transportmittel waren auch begehrt. Im Rucksack war nicht genügend Holz zu transportieren. Vielleicht hatten manche Städter Rucksäcke, mit denen sie am Wochenende Wanderungen in die Berge gemacht hatten, und Gartenbesitzer fällten ohne Bedenken ihre Bäume, Tannen, Buchen. Die Pfempfles, die Bauern, bei denen sie wohnte, dachten nicht daran, ihre Obstbäume zu fällen, die Bäume waren die Grundlage des Hofes, sie waren etwas, das immer zur Familie gehörte, wie das Milchvieh. Auf der gegenüberliegenden Seite fand sie die Anzeige: Meinen Schülern zur Kenntnis, daß der Zither-Unterricht wieder am Dienstag, den 22. Januar 1946 beginnt. Das Unterrichtszimmer befindet sich in der Hauptstraße 27/III bei Herrn Zollsekretär Merkl. Neuanmeldungen ebenso dort erbeten. Und sie las auch von der dringenden Suche nach einem Bassisten (Schlagbaß) sowie einem Cellisten und einem Posaunisten, außerdem wurde eine routinierte Schlager-(Refrain)-Sängerin gesucht. Zu richten waren die Eilangebote an das Konzert- und Tanzorchester Otti Weber-Helmschmied.
Das las sie alles sehr sorgfältig, und sie versuchte sich einzufühlen in die Leute, die solche Anzeigen aufgaben. Und sie versuchte auch, sich vorzustellen, andere Menschen in ihrer nun einmal nicht freiwillig gewählten Umgebung fühlten sich in ihre, Claire Kornitzers, Situation ein: die Kinder weit weg, damit sie überlebten, der Mann noch sehr viel weiter weg, damit er überlebt. Und der Kriegsbeginn, die unsinnige Anzettelung des Krieges, der ein Weltenbrand wurde, verhinderte ihre Auswanderung, verhinderte die Vereinigung des Vaters mit den Kindern, verhinderte ihre Vereinigung mit ihrem Mann auf einem anderen Kontinent. All das hinterließ Narben, Erschütterungen, Verluste, die einem Fremden kaum begreiflich zu machen waren. Rucksäcke, Feuerholz und eine Zither tauchten aus dem Nebel auf; Posaunisten und Bassisten stießen dazu und versanken wieder im Nebel. Und so mußte sie sorgsam und ohne allzu viel Gefühlsballast in den entsprechenden Lücken der Formulare schreiben, nicht zu viel, keinesfalls zu viel, aber doch kraftvoll und nicht zaghaft. Und so schrieb sie.
„Betr. Erfassung deutscher Bürger jüdischer Konfession oder Abstammung.