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Tonfilm ist Kitsch!

Wer Kunst und Künstler liebt, lehnt den Tonfilm ab!

Tonfilm ist Einseitigkeit! 100 % Tonfilm = 100 % Verflachung.

Tonfilm ist wirtschaftlicher und geistiger Mord!

Seine Konservenbüchsen-Apparatur klingt kellerhaft, quietscht, verdirbt das Gehör und ruiniert die Existenzen der Musiker und Artisten! Tonfilm ist schlecht konserviertes Theater bei erhöhten Preisen!

Darum: Fordert gute stumme Filme!

Fordert Orchesterbegleitung durch Musiker!

Fordert Bühnenschau durch Artisten!

Lehnt den Tonfilm ab! Wo kein Kino mit Musikern oder Bühnenschau ist: Besucht die Varietés!

Claire konnte darüber nur den Kopf schütteln. Pfründe, Besitzstandswahrung, und sie wollte sich schon selbst in lauter Ausrufezeichen erregen. Als gäbe es ein Naturrecht, vor dem Film und zur Begleitung des Films zu fiedeln, zu blasen und zu klimpern. Als wäre die Sprache, als wären Geräusche nichts, nur die künstlich erzeugten Töne auf Instrumenten, die sich quirlend als künstlerische Töne aufspielten, hätten eine Geltung vor den natürlich erzeugten, dem Räuspern, dem Ausatmen, dem girrenden Lachen, den unbekannten, verstörenden Schritten auf dem Asphalt. Als hätten Artisten, Vogelfänger, Schlangenbeschwörer, Aus-dem-Hut-Zauberer und Musiker das Gehör zum eigenen Gewinn gepachtet und wollten es dann als unerläßliche Beigabe zu den Filmen verschachern. Ja, es stimmte, Tausende von Musikern wurden gefeuert. Aber auch Bankangestellte, Stenotypistinnen, Fräser und Ingenieure wurden gefeuert, das war die Krise, das waren die Auswirkungen des Börsenkrachs, als alle internationalen Kredite an das Deutsche Reich gekündigt wurden. Auch kleine Kinos, die sich die Umrüstung auf den Tonfilm nicht leisten konnten, mußten schließen. Möglicherweise versetzte der neue Tonfilm dem Stummfilm den Todesstoß. Claire dachte auch: Das wird sich weisen. Und sie dachte auch: Kommt Zeit, kommt Rat. Vielleicht dachte sie zu viel oder nicht zielgerichtet genug. Im Advent 1932 hatten auf den Bürgersteigen des Tauentzien Bettler und Hausierer eine enge Gasse gebildet. Aufdringlich und vorwurfsvoll rappelten sie mit Streichholzschachteln, die sie verkaufen wollten. Sie boten Nähnadelbriefchen, Pflaster und Putzlumpen an, spielten Schifferklavier und entlockten gefährlich blinkenden Sägeblättern jaulende Töne. Die enge Gasse machte Angst, selbst dort einmal zu stehen, sich aufzureihen in der Elendsprozession, aber auch Angst, im Unvermeidlichen eine starke Rolle, eine unvermeidliche Rolle zu spielen: die des Opfers. Auf diese Rolle konnte man sich in aller Sorgfalt vorbereiten, wenn die Zeit kam, und sie kam unerbittlich, eine Ordnungsmacht, der ein Einzelner, eine Einzelne kaum gewachsen waren. Zu viel der Abhaltungen, der Verrichtungen, das Gehör übernahm, und die sehenden Augen wandten sich ab.

Der Film hatte Nerven und Phantasie bekommen, der Ton konnte die Kamera ins Unrecht stürzen oder sie unterstützen. Der Tonfilm entdeckte die Stimme der Dinge, das Getöse einer Fabrik und das monotone Rinnen des Herbstregens. Aber der Tonfilm mußte auch das Schweigen lernen, das dramatische Schweigen, wenn alles gesagt war, Musik kam, und Musik verstummte, plötzlich war die Stille ein wichtiges Ausdrucksmittel geworden, die Stille und das Schweigen markierten extreme Gefühle, es war ein Lernprogramm ganz neuer Art.

In der Werbung war es anders: Es war wirksamer, den Namen einer Firma auszusprechen (mit welcher Stimme, welchem Timbre der Stimme, mit welcher Gewißheit?) als nur den Schriftzug abzufilmen. Das Bild stockte, stand still und machte den steifen Buchstaben Platz. Jetzt, im neuen Tonfilm, konnte eine Stimme den Firmennamen interpretieren, ihn sich auf der Zunge zergehen lassen oder dramatisch hinausposaunen, was das Simpelste war. Am besten schien es Claire, wenn die Worte leicht, schnell und zwanglos gesprochen wurden, damit sie sich den Schnitten von Sprecher zu Sprecher anpassen konnten. Bild und Ton wurden ein organisches Ganzes. Der Ton war ein Protest gegen das Lesen der Schriftzüge, die die Stummfilmbilder erklärten. Claire war auf der Seite der Neuerung, nicht bedingungslos auf der Seite jeder Neuerung, aber doch immerhin. Sie konnte sich einen Werbefilm vorstellen mit sprechenden, blank geputzten Schuhen, tanzenden Schuhen und einer Schuhcremedose, die eine Spieldose war, aber sie konnte sich noch nicht wirklich vorstellen, ob sie den Werbechef der Schuhcreme-Firma von ihrer Filmidee überzeugen könnte. Alles andere wäre Selbstüberschätzung. Man hatte so etwas noch nicht gesehen. Wollte das Publikum so etwas sehen?

Sie reiste im Reich herum, um ihre Firma und die Werbefilme vorzustellen oder um Aufträge zu akquirieren, traf Reklamefachleute, und es war ihr unfaßbar, daß ihr freundliche, gebildete Männer, die in irgendwelchen Konsortien saßen, von Zeit zu Zeit die ganz ungeschützte Frage stellten: Frau Kornitzer, was muß man machen, um in Berlin Erfolg zu haben? Sie hatte schon eine Vorstellung, warum das in dem einen Fall gelang und in einem anderen Fall nicht, aber das war nicht einfach so zu erklären. (Jedenfalls nicht geradeheraus in ein erfolgsversessenes Gesicht, das auch erstarrte und die Verbindung verlor zu weicheren, ungeprägteren Gesichtern, mit denen wiederum kein Staat zu machen war.) Es war doch mit Händen zu greifen, sie, Claire, hatte es begriffen, die Zeit war so, und alle, die solche unsicheren Fragen stellten, drifteten im unsicheren Raum. Man mußte Kommunist sein oder Nationalsozialist, dann wußte man Bescheid. Man wußte Bescheid, wenn man sich längst entschieden hatte. Aber der Werbefilm war schillernd vielschichtig, und das Recht, das Richard Kornitzer studiert hatte und das er jetzt verkörperte, war es nicht. Ja „er sprach Recht“. (Oder sprach er „recht“ im Sinne von „richtig“? Das was eine rechtsphilosophische Diskussion, zu der er aber jetzt nicht Stellung nehmen konnte.) Es war zu viel zu tun, die Prozesse häuften sich. Richard und Claire sprachen am Abend, wenn Cilly schlief, wenn Georg seine letzte Nachtmahlzeit aufgenuckelt hatte, darüber, was denn werden sollte, und was die veränderte politische Lage für die Prowerb und für das Richteramt bedeuten könnte, aber sie wollten sich auch nicht über die Maßen erregen. Nicht verrückt machen lassen! Das war eine Devise, die wie ein Schild über der eleganten Wohnungstür in der Cicerostraße hing. Man mußte abwarten, im Zweifelsfall würde nichts so heiß gegessen wie gekocht. Ja, es gab Angst, Unwägbarkeit. Aber sollte man dem Instinkt nachgeben oder der Vernunft? Die Angst war ängstlich, natürlich, die Vernunft weitblickend, so schien es. Die Vernunft vertraute darauf, daß die Angst nicht überhandnehmen mußte, durfte.

Manchmal träumte Claire von einer weißen, unbespielten Leinwand. Der Projektor lief summend und röhrend und war, wie es sich gehörte, auf die Leinwand gerichtet. Sie spürte die Aufregung, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie stehend am Rand des Kinosaals die Werbung kontrollierte, aber es gab in diesem Traum keinen Film, es gab nur den kalten, gebündelten Lichtstrahl, das Spulen des Streifens. Sie wachte dann erschreckt auf und schwor sich, noch sehr, sehr viel häufiger ins Universum zu gehen. Gegen schlechte Träume half nur die Kontrolle der Wirklichkeit. Es würde nichts geschehen, was der Prowerb und ihrer Tätigkeit schädlich wäre. Claire paßte auf, sie war eine Geschäftsführerin nicht nur dem Namen nach, sie führte ihre Firma an einem strikten Zügel.

Claire schlüpfte aus dem Woga-Haus spätabends ins Universum, sie wollte die Wochenschau sehen, die sie am frühen Abend versäumt hatte, sie beschwatzte den Filmvorführer, der gerade den eben gezeigten Film zurückspulte, ja er hatte die Wochenschau auch nicht wirklich sehen können, nun saß sie allein in einem ziegelroten piekfeinen Samtsesselchen, ganz allein mit dem Filmvorführer in dem riesigen Kino, und es brüllte und wallte in ihren Ohren, der Filmvorführer sah sie an, sie sah ihn an, und sie fror, fror. Sie hatte keine Worte für den Filmvorführer, und er nicht für sie, aber das besagte nichts, sie waren ja Kinoleute, ein Blick genügte, der Kinovorführer sah ihr Gesicht wie in einer Großaufnahme, ihr aufgerissenes, entsetztes Gesicht, und sie sah seines, verfinstert, in sich gekehrt. Und wären sie Schauspieler gewesen, hätte eine Kamera ihren Blickwechsel eingefangen, sie hätte nicht nur die Not, das Entsetzen eingefangen, sondern auch etwas Brillantes, eine Blickbewegung, eine Beziehung, die vollkommen uneinstudiert wirkte (und es ja auch war), ein „Was nun“. Etwas Abgründiges zwischen zwei Menschen, die sich nicht kannten und doch in diesem Augenblick im leeren, riesigen Kinoraum kennenlernten. Und wäre noch ein Drehbuch-Autor dazugestoßen in dieser unheimlichen Situation, er hätte die Szene mit dem Film-Vorführer, einem zierlichen, glattrasierten Mann, der wirkte wie ein abgebrochener Philosophiestudent, der sich ins Kino verliebt hatte, und der tüchtigen Geschäftsfrau, die das Kino als ein Transportmittel der Werbung entdeckt und zu nutzen gelernt hatte, filmisch ausbauen können. Er hätte Blicke gepaart und er hätte sie beide als Gegner des neuen Regimes kennzeichnen müssen. Filmvorführer und Geschäftsführerin betrachten den Führer auf der Leinwand. Hätte er einen Dialog gebraucht? Das wäre schon zu viel gewesen. Am besten, seine Protagonisten hätten sich vor der schnurrenden Kamera „erkannt“. Das wäre das Beste für den Drehbuch-Autor gewesen, er hätte sich selbst keiner Gefährdung, nicht der Zensur ausgesetzt. Die Blicke hätten gesprochen, hätten eindeutig gesprochen. Aber wäre diese Sprache noch verstanden worden? Das war die Frage. Es gab keine Möglichkeit des Rückfalls in den Stummfilm.