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Nein, Richard Kornitzer wollte nicht mehr ins Kino gehen, seit er gelesen hatte, Hitler sei zusammen mit Hugenberg und von Papen in einer Filmpremiere erschienen, was das für eine Filmpremiere war, wollte er gar nicht wissen, auch nicht, wofür Claire jetzt werben könnte vor einem Film, von dem er nichts wissen wollte. Claire fürchtete, er wolle auch von ihr nichts wissen an dem Abend nach dem unglückseligen Vorschlag, er wolle sich in seiner Verletzung zurückziehen, in einem Kokon, aber in der Dunkelheit der Nacht spürte sie ihn, sein Zittern, sein Tasten nach ihrem Körper, sein Sich-Aufbäumen. Es war nicht so, daß er Zuflucht im Körper seiner Frau suchte, es war eher so, daß die äußere Bedrohung, die Schutzlosigkeit ihn den eigenen Körper und seine Empfindsamkeit, Empfänglichkeit für Eindrücke, für Glück stärker fühlen ließ. Es war ein Triumph des Abgewandten, der Intimität, des dem Brüllen und Schreien auf den Straßen Versperrten, die Liebe öffnete sich auf leise, eindringliche Weise, vielleicht, als wären sie vorher noch gar kein „richtiges“ Paar gewesen. Ein Ehepaar mit einem kleinen Jungen, einem Kindermädchen und einer schönen Wohnung, das die Paarwerdung noch übte und sich an einem Gelingen freute. Das Eheleben war jetzt eine Gewißheit in der Ungewißheit, ein Geschenk aneinander, füreinander, das die Körper nach dem Höhepunkt noch eine Weile durchschüttelte, außer sich brachte, als wolle etwas bersten, für das sie beide keinen Namen hatten. Es schwindelte Claire. Sie half sich, indem sie leise ins Bad tappte, sich wusch, die Ordnung des Tageskörpers für die Nacht wiederherstellte, es war ein ganz untaugliches Mittel, eher ein Symbol.

Am Morgen irritierte sie jetzt das PloppPloppPlopp der Tennisbälle im Innenhof des Woga-Komplexes. Wer spielte da so leichthändig, während die Kornitzers Sorgen drückten, die sie in der Dunkelheit der Nacht zu bannen suchten? Was dachten die Tennisspieler beim Spiel, was hatten sie am Abend zuvor gemacht, mit wem hatten sie zusammengehockt, um sich Chancen auszurechnen, um zu kungeln, was hatten sie gesehen, was hatten sie gelesen? Und wie verbrachten sie den Tag? Mit wem? Und wie hatten sie sich gewandelt in den paar Jahren des Woga-Baus? Ihre Körper gestählt? Die Vorstellungen von ihrem Leben? Ihre Vorstellungen, in welchem Staat sie leben wollten? Waren diese Vorstellungen überhaupt mit dem morgendlich frischen Tennisspiel in Übereinstimmung zu bringen? Der weiße Sport und die braunen Horden: das ging nicht zusammen. Einmal brach Claire in Tränen aus, während sie aus dem Fenster auf die weißgekleideten Spieler sah, sie würde nicht mehr zu ihnen gehören, und Richard auch nicht. Georg vielleicht, später mal. Und ihr Tränenausbruch, den Richard ihr aus dem Gesicht rieb, kam ihr peinvoll und jämmerlich vor im Angesicht der großen Probleme. Dr. jur. Richard Kornitzer, ihr Mann, durfte unter diesem Regime nicht mehr in seinem Beruf, den er liebte, arbeiten. Ihr kleiner Sohn müßte, wenn er ein Schulkind wurde, über Vater und Mutter und ihre Einstellungen zu diesem und jenem berichten, auch über die Geburtskonstellation war Auskunft zu geben. Das überforderte das kleine Kind, das verstörte die Eltern. Was waren sie, ein Ehepaar, das die familiären Tabus ignoriert hatte? Ein Jude, der einfach eine Protestantin geheiratet hatte, und eine Protestantin, die mit einem geborenen, aber nicht gläubigen Juden sprach, sprach, sprach, bis er ihre Freude, er möge mit ihr eine protestantische Kirche aufsuchen und sich zu ihr bekennen, verstand, aber ihr nicht nachgab? Darin war eine Fraglosigkeit der Liebe, keine Überschreitung, kein Übertritt und auch kein Fehltritt. Aber es gab keinen Altar, vor den sie gemeinsam hätten treten können. Die Orte der Gemeinsamkeit waren Orte der Abwiegelung geworden, zu denen die Erregungen nicht paßten.

Aber sie war auch einmal in Tränen ausgebrochen, als Richard in sie drang. Der Tränenausbruch war eine Erleichterung in der übergroßen Spannung, unter der sie sich befand. Aber Richard, der die Nässe, die ihr Gesicht überströmte, sofort bemerkte, zog sich schockiert, verletzt zurück, als habe er sie zum Weinen gebracht, aber so war es nicht. Die übergroße Nähe war es, kein Blatt Papier paßte mehr zwischen sie. Und als Richard sie, aus dem ehelichen Gleichmaß des Gebens und Nehmens hinauskatapultiert, im Dunklen fragte: Claire, warum weinst du denn? wußte sie nicht wirklich zu antworten. Sie weinte nicht aus Traurigkeit, sie weinte nicht aus Verlustangst. Sie weinte, weil sie ihren Mann in aller Entblößtheit der Angst vor der Zukunft erkannt hatte, ja, nackt und bloß und zitternd, und sie weinte, wie sie sich ihm zeigen mußte, nackt und bloß und voller Angst, was werden sollte aus ihnen. Hatten Adam und Eva, als sie sich zum ersten Mal vollkommen nackt sahen, auch geweint? schoß es ihr durch den Kopf. Es ist nichts, Richard, sagte sie, es ist nur ein Überschwang, und sie glaubte, ihre Stimme habe belegt geklungen.

War Claire früher gerne mit Richard zu Filmpremieren gegangen, wenn ein Werbefilm aus ihrer Firma lief, so hatte sie jetzt den Eindruck, sie stoße an einen Bordstein und stolpere, immer wieder. Ja, sie war willkommen. Ja, man konnte die Geschäftsführerin der Werbefilmfirma gut brauchen, sie war angesehen, zweifellos. Aber etwas stockte, bremste aus, blockte ab. Und sie mußte sich sagen, es war der Mann an ihrer Seite, an dessen Seite sie sich gerne zeigte. Der um seine Arbeit gebrachte Richter war nicht mehr so präsentabel, was sollte man ihn fragen, mit welchem Thema einbeziehen? Jemand, dem das „Juden raus“ in den Ohren klang, schaute nicht ganz glücklich, begeisterte sich auch nicht für jeden Film. Es war ja nicht so, daß „ihre Leute“, so nannte sie die Filmleute, sich maßlos in das politische Fach mischten. Eher war es ein Wind, der über sie hinweg wehte und ihrem Mann ins Gesicht blies. Der Beginn kam schleichend, auf leisen Sohlen, und daß dies der Beginn war, ahnte sie nicht, ahnte ihr Mann nicht. Es waren Maßnahmen, die zu beachten waren, Maßnahmen, die zweifellos unerfreulich waren und den eigenen Radius einengten. Aber wie lang, zu welchem Zweck? Das mußte sorgsam beobachtet und am Abend analysiert werden.

Claire und er waren in diesem Sommer häufig mit dem kleinen Georg zum Wannsee gefahren. Georg, bewaffnet mit Eimerchen, Backformen, die er aber nicht benutzte, und einer Schaufel, schippte Sand und trug ihn ins Wasser, als könnte er mit Beharrlichkeit zum Grund des Strandes vordringen und fände, wenn er nur tief genug graben würde, etwas, das nicht Sand war, etwas Überraschendes, vielleicht einen Schatz. Claire und Richard liebten die Strandausflüge mit dem Kind, er schwamm hinaus, weit hinaus, Claire blieb bei Georg am Ufer, zeigte ihm den Vater als einen kleinen Punkt im Wasser, dann tauchte Richard wieder auf, ein großer, nasser menschlicher Seehund, der sich schüttelte und, auf einem Bein hüpfend, sich doch wieder in den Vater verwandelte, der sich das Wasser aus dem Ohr rieb. Georg lachte, lachte, und dann setzte sich der Vater zu ihm in den Sand, hinterließ eine feuchte Spur, und Claire stieg ins flache Wasser, winkte zurück, warf sich ins brusttiefe Wasser, dann war ihre Gestalt unter der Menge der Badenden nicht mehr auszumachen. Aber Richard schaute auf den See, bis er sie wieder entdeckte oder besser: ihre gelbgestreifte Bademütze. Er spielte mit Georg, half ihm beim Schaufeln, und als Claire wieder vor ihm stand, strahlend, kraftvoll, war er, ja was? ja, er war glücklich. Der Wannsee schien vergoldet, gleißendes Licht, die Segelboote am Horizont wie Wattetupfer, Kornitzer roch nicht mehr den penetranten Geruch des Sonnenöls, hörte nicht mehr das Kreischen und Rufen der Badegäste um die Familie herum, er sah das Licht, trank das Licht, und dann streckte sich Claire, trockengerubbelt, neben ihm aus, berührte zufällig oder nicht mit ihrem Knie sein Schienbein, und er mußte seine Erregung verbergen, indem er sich auf den Bauch drehte. Georg planschte im Wasser, aber er ging unsicher tapsend mit bloßen Füßen auf dem Sand. Die Masse des Sandes, der zu schaufeln war, interessierte ihn, die einzelnen pieksenden Sandkörner waren ihm zuwider.