Das Ordnen des Nachlasses war eine übergroße Pflicht, die in die Phase hineinreichte, in der das eigene Leben in Sicherheit gebracht werden mußte und in der die Pflicht an Bedeutung verlor, vielleicht sogar jede Bedeutung konterkarierte zu einer papierenen Vernünftigkeit, aus der niemand sich mehr verabschieden konnte. Kornitzer erbte. Und er erbte nicht zu knapp, Geld, ein Grundstück in Schmargendorf, ein Aktienpaket, Gegenstände, für die er einen Platz finden mußte, wenn er sich nicht von ihnen trennte. Das Barvermögen war eine Summe, die ihm noch vor kurzem unbegreiflich gewesen wäre. (Und er war sich selbst einigermaßen unbegreiflich als ein so frischer Erbe.) Wie seine Mutter die Summe durch die Inflation gerettet hatte oder auf welche Weise sie sie später vermehrt hatte, wußte er nicht. Das Nichtwissen beschämte ihn, oder er fühlte sich durch seine Mutter beschämt. Er hatte Saftflaschen geöffnet, und sie öffnete Räume, die ein Handeln möglich machten, an das er nicht gedacht hatte in seiner Erniedrigung. Und nun dachte er breiträumiger, großzügiger. Vielleicht war seine Mutter nur diskret gewesen, seine Geldsorgen und ihre Sorgen um die Vermögensverwaltung sollten nichts miteinander zu tun haben. „Geleistet“ hatte sie sich nichts, keine Reisen, keine aufwendige Kleidung, also einfach nur das Geld hausfraulich zusammengehalten. Er schämte sich der Ahnungslosigkeit, in der seine Mutter ihn gelassen hatte, und freute sich gleichzeitig der Unschuld, mit der er das Erbe antrat. Er hatte sich so wenig für Geld interessiert, er war Richter geworden, das Recht war ihm wichtig, auch wie jemand um sein Recht geprellt worden war, als sei es ein Geldvermögen, interessierte ihn, der Begriff und der Gegenstand, der diesem Vergleich zugrunde lag, spielte in seinem Denken kaum eine Rolle. Ein Richter verdiente, ein Beamter war gesichert, so hatte er gedacht und möglicherweise seine Mutter im umsichtigen Umgang mit ihrem Vermögen vollkommen unterschätzt. Jetzt war er ihr dankbar, unendlich dankbar. Und er behielt diese Freude für sich — wie ein Glas Sekt, das man rasch an einer Hotelbar trinkt, einfach so, weil man für einen Freudensprung zu alt und zu vernünftig geworden ist.
Eine vollständig zu räumende Wohnung in einer guten Lage, eben am Ku’damm, das sprach sich schnell herum, und es sprach sich auch herum, daß es eine Judenwohnung war. Sie hatte Substanz, aber die war brüchig, zerfiel in Brocken, verwandelte sich im Nu in den Händen von Bietern und Käufern. Die Wohnung zerschmolz, so mußte man es sagen. Es gab kein Feilschen, eine gnadenlose Ruhe, ein Lauern: Die Erben der alten Frau Kornitzer werden die Gegenstände auf die Straße werfen, und wir, die Aasgeier, die lauernden Nachbarn, die unsere Gier bis jetzt hinter der Gardine bezähmt haben, werden sie nicht mehr bezähmen. Wir werden Tischdecken hin- und herzerren, wir werden Schubladen aufreißen, die uns versperrt sein müßten, wir werden die Schwiegertochter anhauen um ein Paar Meißner Rokokofigürchen mit vergeblich verdrehten Leibern, die jetzt sportiv ohnehin ins Hintertreffen gekommen waren, wir werden die Teppiche begutachten und die Nase rümpfen, wenn ihre Maße nicht in unsere Zimmer passen. Wir werden, wir sind, wir schaufeln alles zusammen, und der streng blickende Sohn, Dr. Richard Kornitzer, der aus vielfältigen Gründen streng (aber auch hilflos) guckt, hat uns nichts zu sagen. Er regiert über den Plunder. Aber über den Wert und Unwert des Plunders in der mütterlichen Wohnung regiert der Marktwert, und die Verkörperung des Marktwerts, das sind wir, die Nachbarn, die Garanten des Preisverfalls. Wir können kaufen, aber wir müssen nicht kaufen. Der Erbe der alten Frau, der jüdische Sohn, muß verkaufen. Man kann dem gelassen zusehen. Man ist auf der Umlaufbahn, man ist im Geschäft, aber das Geschäft ist keine Bude, sondern ein Raunen und Rechnen, ein Handausstrecken und ein Zusammenkehren: Auf Ihre Verantwortung.
Wenn Kornitzer an bestimmten Tagen überschlug, was etwa ein Buffet, dunkel gebeizte Eiche, ein Dutzend geschliffener Weingläser, ein Stapel Bettwäsche wirklich brachte, so hätte er weinen mögen, aber bevor er die Bettwäsche durchzählte, um sie in die grabschenden Hände zu geben, nahm er jedes Stück wie zum Abschied noch einmal auf, und zu seiner Überraschung fand er Geldscheine zwischen den Laken und Bezügen, die er rasch verstaute. Und er dachte: So muß es auch von meiner Mutter geplant worden sein: ein rasches Hinunterschieben und Verstecken und eine ebenso findige Hand, die zwischen die Stapel fuhr und Geldscheine, plattgedrückt vielleicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, in den Falten fand. Es war eine Abbitte an seine Mutter und gleichzeitig eine Bitte, die reiche Saat zwischen den Wäschestücken weiter ernten zu dürfen. So nahm er Töpfe aus dem Schrank, verkaufte sie weiter, Stapel von Servietten schob er über den Tisch für wenig Geld, das kränkte, aber die gefundenen Geldscheine, die nur nach ihm riefen oder heimlich zögernd vielleicht auch nach Claire, richteten wieder auf. Es war, wie in einer Kriminalkomödie zu stecken, eine bestimmte Rolle zu spielen: die des düpierten Naiven, eine in Zukunft ausbaubare Rolle. Was er fand und was er verloren geben mußte, brachte er in ein Gleichgewicht. Wie ein Schlittschuhläufer auf dem Trockenen fühlte er sich manchmal, Schnelligkeit, Eleganz, die Kurve kriegen, all das spielte keine Rolle mehr. Das Spitze, das Floretthafte des Zivilrechts, das er liebte, war weit weg, ins Unerreichbare gerückt, gerutscht, und die scharfen Kufen waren nutzlos, hinderlich auf dem Terrain, auf dem er sich bewegen mußte, torkelnd, unsicher, am falschen Ort, zur falschen Zeit. Manches blieb auch. Die moderne Wohnung in der Cicerostraße wurde voller, Erinnerungsstücke, Alben, Bücher und ein Teppich, auf dem Kornitzer als Kind gespielt hatte, dessen Rankenmuster er bäuchlings liegend entlanggereist war, sah seltsam fremd unter den Stahlrohrsesseln aus. Aber dann krochen Selma und Georg darauf herum.
Am 6. April 1938 kam die Verordnung heraus, daß Juden Vermögen über 5.000 Reichsmark anmelden mußten. Der Beauftragte für den Vierjahresplan konnte Maßnahmen ergreifen, so hieß es, um den Einsatz des anmeldepflichtigen Vermögens im Interesse der deutschen Wirtschaft sicherzustellen. Jüdisches Eigentum entsprach nicht den Interessen der deutschen Wirtschaft. Das frische Erbe der Mutter mußte gemeldet werden, und Kornitzer zitterte, daß man es ihm vor den Augen konfiszieren würde. Und da er der einzige Erbe war, gab es keine Möglichkeit, etwas zu verstecken oder umzuwidmen. Er tat dann etwas Leichtfertiges, was sonst nicht seine Art war. Ein mit sechs kleinen Saphiren besetztes Armband seiner Mutter, das sie im Alter nicht mehr getragen hatte, brachte er zu einem Goldschmied, mit Bedacht hatte er sich ein jüdisches Juweliergeschäft ausgesucht, ein Geschäft, das geächtet war, mit einer auf die Mauer geschmierten Aufforderung, nicht bei Juden zu kaufen, und bat den Goldschmied, es für Claire umzuarbeiten, weniger Schnörkel, mehr Aufmerksamkeit für die Steine im Facettschliff. Der Goldschmied tat das, rührig, schnell und gut zu einem akzeptablen Preis, und fragte doch ein bißchen, warum ein so schönes Stück umgearbeitet werden solle. (Warum er in seinem darbenden Laden diesen verhältnismäßig großen Auftrag erhielt, fragte er nicht.) Kornitzer sagte: Meine Mutter und meine Frau hatten keinen übermäßig guten Kontakt zueinander (das war — gelinde gesagt — untertrieben), und das soll sich auch in meinem Geschenk an meine Frau nach dem Tod der Mutter widerspiegeln. Der Goldschmied verstand sofort, und er verstand auch, daß er möglichst schnell arbeiten solle. Was noch geschehen würde, was nicht mehr möglich wäre und was verboten, wußte niemand. Und als Kornitzer den Schmuck an einem Abend beiläufig auf den Tisch neben die Serviette legte, konnte er nicht erkennen, ob Claire wegen des unerwarteten Luxus erstarrte oder ob sie sprachlos vor Freude war.