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Die Kinder sehen, daß Autos den Kurfürstendamm entlangflitzen, daß sie halten, daß vier, fünf Männer herausstürzen mit vorgehaltener Pistole, daß sie zurückkommen mit einem in ihrer Mitte, einem Opfer, das sie gejagt haben, das sie erlegen werden, warum und wieso, das ist nicht klar. Die Willkür ist deutlich und das versteinerte Gesicht, die Todesblässe des Mannes, den sie abtransportieren irgendwohin, wo es keine Fragen zu stellen gibt. Georg fragt aufmerksam und mit gleichbleibender Kinderneugier: Was machen die Männer mit dem Mann? Und man muß, um das Kind nicht noch mehr zu erschrecken, antworten: Sie führen ihn ab. Ihn, ein Gespenst, dessen frühere Existenz auszulöschen sie die Macht haben, auf Nimmerwiedersehen, wie sie jede Macht haben, auch die der Auslöschung.

Kornitzer möchte nicht, daß seine Kinder die Angst sehen, das Entsetzen, aber er kann sie nicht fernhalten von den Umständen, unter denen sie aufwachsen, er kann sie nicht fernhalten von der Angst, die er empfindet. Er kann sie fernhalten von der Tatsache, daß sie die Angst in den Augen ihrer Eltern sehen, daß sie die Angst riechen. Erregung der Angst, Angst vor dem Zukünftigen, mehr oder weniger angestrengte Versuche, Normalität zu wahren in einem permanenten Ausnahmezustand. Er steht jetzt häufig am Küchenfenster und sieht in der Morgensonne auf die Tennisplätze, das Auf und Ab der Bälle, PloppPloppPlopp, die Bögen, Plopp, die Gelassenheit, Plopp-Plopp, die plötzliche Anspannung. Er sieht gerne auf die energischen Beine. Doch jetzt möchte er auch wissen, was in den Köpfen vorgeht, vor dem Spiel, nach dem Spiel, ja vielleicht auch die Phantasien während des Spiels erfahren. Doch dann schiebt er den Gedanken wieder weg, Siegheilphantasien, über die er nicht wirklich nachdenken möchte, nicht einmal im Ausschlußverfahren. Sein Verstand ist unfähig, gelähmt, darüber nachzudenken. Das tut weh, aber wem das Weh mitteilen? Was Spiel war, kommt ihm nun vor wie ein kalter technischer Wettbewerb, der Ball wird geschlagen, die Zeit wird abgefüllt zwischen den Schlagwechseln, und Kornitzer wendet sich ab. Dann beginnt es zu regnen, ein platter, heftiger Regen, der den roten Sand in Matsch verwandelt. Im Nu sind die Tennisplätze verlassen. Und Claire kommt nach Hause, und er ist nicht mehr allein mit seiner düsteren Stimmung.

Im Juni 1938 in Berlin wurden etwa 1.500 Juden als sogenannte asoziale Elemente verhaftet, schon das falsche Überqueren einer Straßenkreuzung reichte als Delikt aus. Die Verhafteten wurden nur unter der Bedingung wieder aus den Konzentrationslagern entlassen, wenn für ihre Auswanderung unmittelbar nach der Entlassung gesorgt war. Es war die reine Erpressung. Nach der Juniaktion blieb den jüdischen Auswanderungsstellen kaum eine andere Wahl, als legal oder illegal Einwanderungsmöglichkeiten zu schaffen. Kornitzer sucht eine Auswandererberatungsstelle auf. Jetzt ist er entschlossen wegzugehen. Er will nicht, daß seine Kinder Verhaftungen und Überfälle auf unschuldige Menschen sehen. Er will nicht, daß sie sehen, auch ihr Vater wird verschleppt. Und was privilegierte Mischehe heißt, ist ein Aufschub ohne jeden Rechtsstatus, ein Tranquilizer, wie man später sagen würde. Er weiß, was dieser Begriff bewirkt, er bedeutet jedenfalls: Sorge dich nicht, du kommst später dran, wenn es niemand mehr merkt. Vermutlich ist der Begriff privilegierte Mischehe für eine Handvoll schöner Frauen erfunden worden, die mit ihrer jüdischen Eleganz und Weltläufigkeit in Familien hineingeheiratet hatten, die in den Nationalsozialismus kippten. Jedenfalls Personen, für die sofort ein mächtiger Schutzschirm aufzuklappen ist, ein Wimpernklimpern, ein Rennen zum Ortsgruppenleiter, ein Sich-Hinlegen, Flachlegen der schönen begehrten Frau, da konnte man doch vielleicht mit Hilfe der Partei eine Ausnahme machen, ein Schlupfloch, ein Nicht-zimperlich-Sein. Ja, das war die Lösung, eine Scheinlösung, die nicht die Gewalttätigkeit des Systems berührte, es milderte und schönte wie eine mürbe ausgebreitete Lingerie. Kornitzer hatte rasch begriffen, daß es mehr jüdische Frauen als Männer gab, die die sogenannte privilegierte Mischehe schützte. Der Mann dagegen fühlte sich eher schutzlos, als eine Last für seine Frau, die ihn nicht schützen konnte.

Er rannte von Pontius zu Pilatus, das war ein altes Bild, das nicht mehr paßte, aber vielleicht doch das Beschämende der Situation traf. Etwas mußte doch gelingen. Man drückt ihm ein hektographiertes Blatt in die Hand. Luxemburg: Die Grenze für Einwanderer und Durchwanderer ist gesperrt. Das Justizministerium der Niederlande teilt mit: Ein Flüchtling werde in Zukunft als ein unerwünschter Fremdling zu betrachten sein. Das Generalkonsulat der Vereinigten Staaten in Berlin teilt mit: Infolge der außerordentlich großen Zahl von Einwanderungsanträgen seien die für die nächste Zeit verfügbaren Quotennummern erschöpft. Gesucht wurden für die Fidschiinseln: ein jüdischer Pastetenbäcker und ein alleinstehender Uhrmacher, der nicht jünger als 25 und nicht älter als 30 Jahre sein durfte, für Paraguay ein perfekter, selbständiger Bonbonkocher, für die Kap-Provinz ein perfekter Kürschner, für Mittelafrika ein jüdischer lediger Schlächter (spezialisiert auf die Herstellung von grober Cervelatwurst), für San Salvador ein unverheirateter jüdischer Ingenieur für den Bau elektrischer Maschinen. Am größten waren noch die Chancen in dem von den Japanern gegründeten Operettenstaat Mandschukuo. Gesucht wurde dort für ein Kabarett ein jüdischer Regisseur, der gleichzeitig Ballettmeister sein mußte und mit der ersten Ballerina als Partner tanzen sollte, und ein Ballett von sechs bis acht Tänzerinnen, die imstande waren, auch als Solistinnen aufzutreten. Außerdem brauchte man dort ein jüdisches Damenorchester und eine Pianistin, die auch Akkordeon spielen konnte. Es war niederschmetternd, am besten wäre der Auswanderungswillige eine eierlegende Wollmilchsau. Einen Richter brauchte kein einziges Land. Besser, man wußte nicht, was der Paßbeamte des britischen Generalkonsulats in einem deprimierenden Situationsbericht geschrieben hatte: Die Juden weigerten sich einfach, ihn und seinen Kollegen überhaupt anzuhören; er fügte aber hinzu, daß er ihren Standpunkt (wenn man ihn überhaupt so nennen könnte oder eher den Tiefpunkt ihres Selbstwertgefühls) verstehen könne: … it might be considered humane on our part not to interfere officially to prevent the Jews from choosing their own graveyards. They would rather die as free men in Shanghai than as slaves in Dachau. Das war ein Dokument, das stolz gemacht hätte, wäre es zur gleichen Zeit (rechtzeitig) öffentlich gemacht worden.