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Kornitzer reiste nach Hamburg. Im Konsulat herrschte eine gemächliche Langsamkeit (Trägheit?), eine Haltung wie: Nichts wird so heiß gegessen wie gekocht. Es war gut, viel Zeit mitzubringen, Zeit im Überfluß, aber die Ungeduld drängte, bohrte, wollte Ergebnisse. Mit Kornitzer wartete ein Ehepaar, das eine Anwartschaft auf ein amerikanisches Visum hatte, aber durch die strenge Quotenregelung die Wartezeit bis zur Erteilung des Papiers in einem anderen Land, möglichst nicht weit von den USA, verbringen wollte. Es wartete auch eine junge Frau, die von Verwandten in den USA schwärmte. Sie hoffte, ihre versprengte Familie könnte ohne großen Kostenaufwand zu ihr nach Kuba kommen, und eines Tages bekäme sie ein Visum für die USA. Kornitzer hatte keine Verwandten außerhalb von Deutschland. Die Quotenregelung für die USA war unüberbrückbar hoch, so viele Menschen wollten in die USA. Und es gab Leute in der Warteschlange, die bekundeten, sie hätten kein Depot von 500 US-Dollar, aber sie seien in Not, in Not, flehende, händeringende Menschen, die dann auf den harten Stühlen des Konsulats herumrutschten, es war die reine Zeitverschwendung. Die Zulassung von Emigranten, das ahnte Kornitzer gleich, war eine Erwerbsmöglichkeit für den dürstenden kubanischen Staat und seine Beamten. Deshalb hatte Kornitzer für alle Fälle ein Kuvert vorbereitet, das Geld ist verloren und gleichzeitig gut angelegt, sagte er sich.

Er hatte wie alle Bittsteller im Vorraum schon ein Formular ausgefüllt, Name, Geburtsort, Beruf. No escribir por debajo de esta línea. Nicht unterhalb dieser Linie schreiben, das verstand er sofort, und er verstand es auch als eine Würdeform, sich keiner Unterschreitung schuldig zu machen. Was ist Ihr Beruf? fragte dann doch der Konsul noch einmal, als Kornitzer vorgelassen wurde. Der Konsul war ein Mann mit einer glänzend geölten Haarpracht und schönen Manschetten, die akkurat aus den Ärmeln seines Sakkos blitzten. Ich bin Richter, antwortete Kornitzer, und darf in meinem Beruf nicht mehr arbeiten. Eine Schreibmaschine klapperte im Hintergrund, eine Frau mit einem bronzefarbenen Schwanenhals und einer Korallenkette darum, mehr sah er nicht vor ihr, bediente sie. Richter für …? dem Konsul fehlte das deutsche Wort, und er machte eine rasche Bewegung mit der flachen rechten Hand, die wie Köpfen (oder Halsabschneiden?) aussah. Aber Kornitzer verstand, was er meinte. Nein, sagte er, mit Kriminellen habe ich nichts zu tun, ich habe in einem Zivilgericht gearbeitet. Ah, sagte der Konsul, tribunal civil. Kornitzer nickte. Der Konsul sah ihn sinnend an, etwas in ihm schien zu schmelzen, zu tropfen, Wachs in den Händen, butterweich, er zupfte an seinen Manschetten, und dann wiederholte er das Wort zivil, sprach es anders aus, aus dem Zett war etwas Pfeifendes, die Zungenspitze gegen die Schneidezähne Drängendes geworden. Ssivil. Kornitzer nickte, ja, Richter am Zivilgericht. Und dann verengten sich die Augen des Konsuls zu Schlitzen: Patente? fragte er. Ja, Kornitzer hatte am Zivilgericht auch mit der Anerkennung von Patenten zu tun. Das schien dem Konsul Respekt einzuflößen. Las patentes de Alemania, sagte er und machte eine große Geste, einen armweiten langsamen Bogen, las patentes Deutschland, las patentes Kuba. Kornitzer antwortete geistesgegenwärtig: Meinen Sie, ob man Patente aus Deutschland nach Kuba übertragen könnte? Der Konsul antwortete nicht, in seinem Blick war etwas Lauerndes. Also beeilte sich Kornitzer zu sagen: Ja, man kann Patente transferieren (instinktiv wählte er das lateinischstämmige Wort, damit der Spanischsprechende ihn besser verstand), vorausgesetzt — weiter kam er nicht. Er wollte auf das Rechtsproblem hinweisen, auf den Schutz des Patents, aber er begriff sofort, hier ging es darum, den Schutz auszuhöhlen, und es schwindelte ihm. Er wurde gefragt, ob er das geforderte Depot habe, das Kapital in Dollar, Kornitzer bejahte. Dann saß der Konsul da und sagte gar nichts, seelenruhig saß er da und schaute an Kornitzer vorbei aus dem Fenster. Zeit tropfte, und jetzt verstand Kornitzer, er mußte handeln, und er griff in die Innentasche seines Jacketts, nahm den Briefumschlag heraus und schob ihn über die Tischplatte. Eidechsenschnell schnappte die Hand des Konsuls nach dem Umschlag, ein Blick hinein genügte, und der Umschlag wurde in der Schreibtischschublade verstaut. Eine Person, sagte der Konsul dann, ein Visum für eine Person. Aber ich bin verheiratet, meine Frau hat ihre Firma verloren, weil sie mit einem Juden verheiratet ist, meine Kinder sind in England. Eine Person, wiederholte der Konsul mit ausdruckslosem Gesicht. Den Paß bitte, Kornitzer reichte seinen Paß, und dann klapperte die Schreibmaschine, und im Nu hatte er ein Visum nach Kuba, und er wußte nicht recht, ob er sich freuen solle über sein Visum oder empört sein, daß er für Claire kein Visum bekommen hatte. Wäre sie doch mit nach Hamburg gefahren! Als er sich bedankt und den Raum verlassen möchte, hält ihn der Konsul zurück. Patentes, sagt er noch einmal, und jetzt macht er keine weitausholende Geste der Übertragung, sondern ruckt den Kopf nur beiseite, was etwas verschwörerisch aussieht. Und dann schreibt er eine Adresse in Havanna auf einen Zettel, offenkundig die Adresse eines Mannes (el abogado), der liebend gerne Patente aus Deutschland in Kuba nutzen möchte.

Kornitzer wagt kaum, Claire zu sagen, daß er nur ein Visum hat, eines für sich. Insgeheim macht er sich bittere Vorwürfe, er hätte wie ein Löwe kämpfen müssen, zwei Visa oder keines. (Er hätte möglicherweise auch mehr Geldscheine in den Umschlag stecken müssen, aber wie viele?) Claire nimmt es zu seiner Verwunderung nicht so schwer. Ich werde nachkommen. Ich werde alles tun, um nachzukommen. Es ist noch so viel zu regeln, Richard, der Haushalt aufzulösen, sich verabschieden, ich werde auch nach Hamburg fahren und werde ein Visum bekommen. Ihre Gewißheit beruhigt und verwundert ihn gleichzeitig. Er muß ihr sagen, daß der Konsul bestechlich ist und daß er ihn bestochen hat. Jetzt nicht, sagt er sich, ich will sie nicht in Verwirrung bringen, später werde ich es ihr sagen. Und dann ist „später“ irgendwann vorbei.

In der Glühbirnenfarbrik erhält Kornitzer ein Zeugnis, in dem ihm bestätigt wird, er verließe auf eigenen Wunsch das Unternehmen. Und weiter: Soweit es ihm möglich ist, sucht er sich in das Volksganze einzugliedern und den Platz auszufüllen, der ihm im neuen Reiche zugewiesen ist. In seinem Auftreten ist er bescheiden und zurückhaltend, er versteht seine Stellung als Nichtarier taktvoll zu wahren. Gute Wünsche für seine Zukunft, wie es in Zeugnissen üblich war, gab man ihm nicht mit auf den Weg.

Kornitzer reist nach Southampton, mit einem Dampfer der Hapag-Lloyd, der aus Hamburg gekommen ist, er ist ein Transitreisender, das macht seine Ausreise und die Zollabfertigung weniger schrecklich. (Andere Passagiere werden von den deutschen Zollbehörden bis in die letzten Intimitäten untersucht.) Nach Southampton hat Claires Schwester Vera für ihn telegraphisch Geld überwiesen, sein eigenes Geld, das er zur Ausreise nicht mitnehmen darf. Er preist Vera, die Vertraute in der Niederlage. Vera hat das Geld in ihrem Namen überwiesen, und er hat ihr im Gegenzug seine Lebensversicherung überschrieben. Im Falle, daß ihm etwas zustieße. Im Falle, daß Claire, der jüdisch Versippten, seine Lebensversicherung, wenn sie fällig würde, nicht mehr ausgezahlt würde. Das war klug ausgedacht, vorausschauend (wenn es überhaupt noch eine Zeit gab, in die man vorausschauen konnte, ohne in einen Abgrund zu schauen). Kornitzer wechselte nur einen kleinen Teil der Reichsmark in englische Pfund ein, nur so viel, daß es für einige Tage zum bescheidenen Leben reichte, Toast und Pie und ein dunkles, bitteres Bier am Abend, von dem er annahm, daß es satt macht. Er richtet sich in einer Bed-and-Breakfast-Pension ein. Er besucht die Kinder, umarmt sie und will sie gar nicht loslassen. Er hat für beide Spielzeug aus Deutschland mitgebracht, ein alleinreisender Herr, der mit einem Teddybären und einem hölzernen Segelschiff reist, sehr merkwürdig wirkt das bei der Zollkontrolle in Hamburg, wie eine kleine Perversion. (Später begreift er, es war eine unsystematische Irreführung, die ihm nicht bewußt war, ihm aber nützte.)