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Er besucht die Kinder, und die Freude ist überwältigend, ein Zerfließen, ein Außersichsein. Die Kinder umklammern die Geschenke, fragen nach der Mutter, er muß ihnen mühsam erklären, warum er allein gekommen ist, und merkt, sie verstehen es einfach nicht, sie verstehen es nicht oder wollen es nicht verstehen aus Enttäuschung. Zweimal ist er beim Reverend eingeladen, einmal zum Tee, einmal zum Lunch, von dem er das lauwarme Hammelfleisch und die Mincesauce dazu in Erinnerung behält. Er ist beruhigt über die leise Freundlichkeit des Reverend, er drückt den beiden Damen die Hand, die für den ausländischen Gast rosa Puder auf die Nase und die Wangen geklopft haben und nach Veilchenparfüm duften. Er drückt seine Dankbarkeit aus, daß sie die Kinder bei sich aufgenommen haben. Eine der Damen — die Schwester des Reverend — wagt sich vor, die Kinder seien doch gut gekleidet und in einem guten Ernährungszustand nach England gekommen, so groß könne ihre Not doch in Deutschland nicht sein. Kornitzer sucht daraufhin fieberhaft in seinem Gedächtnis ein englisches Wort für Bedrohung. Als er keines findet, sagt er: The Jewish Children are in danger principally, and I, the father, even more. Daraufhin legt die Fragende bedächtig den Kopf zur Seite, während dem Reverend ein Oh! entfährt, das er wiederholt, während die Frau des Reverend Kornitzer einfach noch eine Tasse Tee eingießt. Tee kann nie schaden. Er sieht den schönen Rosengarten, die Malven, die Pfefferminzbüschel im Schatten der Ulmen und ist beruhigt. Ja, die Kinder haben es gut getroffen. Etwas, ein winziger Impuls, sagt ihm: Bleib einfach hier. England ist ein kultiviertes Land. Man wird dich nicht zurückschicken. Bleib in der Nähe der Kinder. Aber das Visum knistert in seiner Tasche, die Schiffspassage. Er würde die Kinder nach Übersee holen, Claire käme so bald wie möglich. Und der Impuls versickerte.

Vor der Abreise hat er mit Claire ein Codewort ausgemacht — Museum — und schreibt: Ja, das Museum sei geöffnet gewesen bei seinem Besuch, er habe unvergeßliche Bilder gesehen und sei sehr dankbar dafür. Er umarmt die Kinder so heftig, daß sie aufschreien, ja, jammervoll hören sie sich an, und er behält den Laut in der Erinnerung. Ein heller, schmerzvoller Ton, den er mit keinem anderen vergleichen möchte, den er jemals gehört hat. Die letzte Lebensäußerung seines Sohnes und seiner Tochter, die ihm in Erinnerung bleibt. Er muß sie verlassen, er muß sie zurücklassen, er hat keine Chance, in England zu bleiben. Er sagt es dem Reverend: Die Bedingung für die Rettung der Kinder war der Verzicht auf die Rettung der Eltern, hier: des Vaters. Er mußte den Preis zahlen. Er war ein rechtlich denkender Mann. England nahm nur noch Kinder auf, keine stellensuchenden Erwachsenen, so bitter das war. Wieder schüttelten die Damen den Kopf, und der Reverend sagte etwas, was wie what a shame klang. Kornitzer verabschiedet sich vom Reverend und den beiden Schwestern, dann reist er nach Southampton zurück, dort liegt das Schiff vor Anker, das seine Hoffnung ist: Reina del Pacífico. Es gilt als ein sehr schnelles, komfortables Schiff, es fährt seit 1931 auf der karibischen Route. Und es ist das erste Schiff mit einem vollständig weißen Schiffsleib, eine schlanke Schönheit unter den Ozeanriesen. Die Route, so hat er den Prospekt buchstabiert, führte nach La Rochelle, dann nach Vigo in Spanien, nach Hamilton auf den Bermudas, nach Nassau auf den Bahamas, nach Havanna und weiter nach Kingston auf Jamaica, das Schiff durchfuhr den Panamakanal, landete in Guayaquil in Ecuador, dann in Callao in Peru, lief Antofagasta in Chile an, die Route endete in Valparaiso. Klangvolle Namen, Perlen auf einer Kette, sicher aufgefädelt, wenn der Faden nicht riß.

Als ein schweigsamer Herr in der zweiten Klasse ist er nicht gleich als Deutscher zu erkennen, nicht gleich als Flüchtling, nicht gleich als Jude. Im Unterdeck reisen Flüchtlinge aus dem spanischen Bürgerkrieg, geschlagene Republikaner. Aber sie wirken nicht wie Geschlagene, sie wirken hoffnungsvoll, als wäre nur eine Schlacht verloren gegangen, und andere würden sie gewinnen. Sie strahlen aus: Wir sind historisch im Recht. Von den deutschen Emigranten kann man das nicht behaupten. Kornitzer hat ein Lexikon, er hat eine spanische Grammatik, er lernt, er paukt, er weint, wenn es dunkel ist. Und wenn es wieder hell ist, schreibt er in sein Vokabelhaft. Recht — el derecho, Unrecht — lo antijurídico, Strafe, Straffreiheit, Zeuge, Mindeststrafe und Höchststrafe: So ist es gut, gut im Schlechten. An einem Nachmittag tauchen wie eine Fata Morgana idyllisch schöne Inseln auf, sattes Grün, es sind die Bermudas, erklärt man den Flüchtlingen. Die Reina del Pacífico fährt die Küste entlang, weiße, einsam stehende Villen, nette propere Siedlungen und ein altertümlich befestigter Hafen. Manchmal singen die Rotspanier, kraftvolle Lieder, nein, sie geben sich nicht geschlagen.

Die kubanische Haut

Tage, mit heißer Nadel aneinandergestichelt, sich gegenseitig überlappend. Ein Sandmückenschleier sirrt in der Luft über der dösenden Bucht. Klares, blaues Licht, Licht von ruhiger Eindringlichkeit, das einen bloß und bleich erscheinen ließ. Windmühlen, Zuckermühlen, Tabakfelder, Regimenter von Bananen. Zuckerrohrkämpfe, ausgefochten wie mit Lanzen, Macheten. Die ganze Ökonomie hing an einem seidenen Faden, und der war der Zuckerpreis. Gleißende Helligkeit der Barockkirchen und ihrer Nachahmer aus dem 19. Jahrhundert, die glanzvolle Ausstrahlung der Paläste mit ihren schattigen Höfen, Denkmäler, orchideenweiß, chinaweiß, porzellanweiß, vanillefarben. Kuba war ein Fließen und Ergießen, Bäche von Schweiß (man roch ihn, tat aber, als röche man ihn nicht), eine Lockerung, Beruhigung ganz ohne Grund. Im Januar, Februar waren die Temperaturen noch um 25 Grad. Ende März stieg das Thermometer bereits auf nahezu 40 Grad, man mußte sich damit abfinden, zu triefen und zu tropfen und sich dessen nicht zu schämen. An eine seriöse, hitzetaugliche Kleidung war gar nicht zu denken. Es sei denn, man nahm auf eine untergründige Weise Kontakt zu einem Schneider auf, einem Schneider, der ein irgendwie begründetes Rechtsproblem hatte, jemand war ihm die Rechnung schuldig geblieben, der Stoff, den er eingekauft hatte, war schadhaft, er wollte sich zur Wehr setzen, da war vielleicht etwas zu tun oder auch nicht. Die Bougainvilleas kämpften mit sich in seinem Hof, eine Palme, die aber nicht ausladend genug war, beschattete seinen Laden. Man konnte ihm Mut machen, das Rechtsproblem zu lösen, ohne daß er ein Gericht in Anspruch nehmen mußte, man konnte ihn vertrösten, Schriftsätze aufsetzen, die wehrhaft klangen, aber nichtig waren. Rechtsauskunft gegen Hose gegen Vertrauen. Zeit spielte keine Rolle, was sollte sich ändern, aber auch, was sich erst in einem Jahr änderte, war nicht aus der Zeit gefallen. Im September war die Luft so, wie man sie sich in der Hölle vorstellte. Es war so heiß, daß man schon gleich nach der morgendlichen Waschung mit einem Schweißfilm überzogen war und sich selbst nicht leiden konnte. Und dann begann es zu regnen, Ströme von Naß, Wasservorhänge, die Straßen reißende Flüsse, durch die man paddelte.