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Santiesteban Cino hatte die Gewohnheit, seinen Mandanten Schriftsätze, Verträge laut vorzulesen. Er ging dabei schauspielerhaft auf und ab in seinem Zimmer, behielt den Mandanten im Auge, forderte ihn auf zu unterbrechen, wenn etwas nicht verstanden wurde. Doch nur in den seltensten Fällen unterbrach ein Mandant die Lesung. Vielmehr schienen die meisten gefesselt zu sein. Kornitzer wartete häufig an der Tür, ein Zuschauer, ein Zuhörer ohne Funktion. Das Vorlesen der Schriftsätze und Verträge war zeitaufwendig, umständlich; es wirkte auf Kornitzer, als glaube Santiesteban Cino, er habe es vorwiegend mit versteckten oder wirklichen Analphabeten zu tun, aber es war wirkungsvoll. Warum tun Sie das, das Vorlesen? fragte Kornitzer ihn. Es gab keinen Zweifel, daß er es gerne tat. Während ich vorlese, lese ich gleichzeitig im Gesicht des Mandanten, ob er den Schriftsatz versteht. Sie wollen verstanden werden? bohrte Kornitzer weiter. Daraufhin sah Santiesteban Cino ihn so eindringlich an, daß Kornitzer keine Worte mehr hatte, keine spanischen, keine deutschen. Und Santiesteban Cino blieb beim Vorlesen.

Ja, doch, Abogado Rodolfo Santiesteban Cino fragte auch einmal nach deutschen Patenten. Und er sagte gleich im Nachsatz, sein Freund im kubanischen Konsulat in Hamburg habe die fixe Idee, deutsche Patente nach Kuba zu vermitteln, das sei ehrgeizig, kühn. Kornitzer wandte vorsichtig ein, ein Patent sei ein schutzwürdiges Gut, ein geistiges Eigentum, das offiziell, auch international, anerkannt sei und deshalb schwer transportabel, eher sperrig, unbeweglich, auch in ethischer Hinsicht. Der Rechtsanwalt nickte, sagte: Ja, mein Freund sieht das in Deutschland lockerer, aber wir, wir, er wurde ernst, wir in der Republik Kuba müßten solche Projekte auch umsetzen können. Mit anderen Worten: sie müßten Nutzen bringen.

Kornitzer hatte sich auf ein solches Gespräch vorbereitet und gleichzeitig abwehrend gewappnet. Er hatte für den Fall, daß man ihm ein Patent abfordern würde, sich mindere, harmlose, keinesfalls die Rechte-Inhaber in Nöte bringende Patente gemerkt. Zum Beispiel den Fall einer Dame in Tiergarten, die glaubte, ein Mittel erfunden zu haben, das Schnittblumen länger haltbar macht. Das Mittel war zweifellos wirksam. Es stellte sich nur in weiteren Untersuchungen heraus, daß die Ingredienzien im Gebrauch hochgiftige Blausäure ausströmten. Die Blumen blieben länger frisch, nur der oder die sie pflegte, war in Gefahr, sich in kürzester Zeit zu vergiften. Er hatte auch das Patent für ein Fahrrad im Kopf, das seine Übersetzung nicht mittels einer Gangschaltung, sondern mit Stationen, an denen man einen Schlüssel umdrehte, veränderte. Das war eine feine Sache, prinzipiell, aber es sah feste Routen für Radfahrer vor, als wäre der Radfahrer eine Art von individuellem Schienenbus. Und er erinnerte sich an die Meisterleistung eines stolzen Ingenieurs, der einen Wasserdampf-Druck-Kochtopf patentieren lassen wollte, der zweifellos die Kochvorgänge beschleunigte und vereinfachte, aber die Frau eines Kollegen, die ihn ausprobiert hatte, trug schwere Brandwunden im Gesicht und an den Händen davon, die sie wochenlang verunstalteten. Solche Rohrkrepierer hatte er sich gemerkt, um in Kuba nicht mit leeren Händen dazustehen und trotzdem wirklich erfinderischen, qualitätvollen Patente-Inhabern, die jahrelang getüftelt und geforscht hatten, nicht zu schaden.

Und es ging ihm durch und durch, als Claire ihm in Bettnang in ihren Dachstübchen erzählte, sie habe bei einem Patentanwalt in Friedrichshafen gearbeitet, und Patente, die offenbar mit der deutschen Flugzeug- und Waffenindustrie zu tun hatten, seien durch ihre Hände gegangen. Ja, wenn sie wirklich beide zusammengespielt hätten als ein bilaterales Spionagepaar, schlau und verwegen und hochkriminell, das wäre eine Lösung gewesen. Die Frau mit Zugang zur Waffenindustrie, der Mann, der über die Drehschreibe Kuba die deutschen Patente auf dem internationalen Markt, der natürlich amerikanisch war, lancierte und verscherbelte. Es wäre wie ein Eiskunstlauf, ein Paarlauf gewesen, gefährlich, virtuos, aber dazu waren sie beide zu solid, nicht spielerisch oder nicht verbrecherisch genug. Und so bot Kornitzer Santiesteban Cino zunächst ein paar Anekdoten, Ungesichertes, Gefährliches, Hirnverbranntes, eben nicht die gewünschte deutsche Präzision, und der Rechtsanwalt, der ihm mit ruhigen Augen zugehört hatte, winkte ab, was Kornitzer ungemein beruhigte. Schließlich sagte er milde lächelnd: Da hat sich mein Freund in Hamburg auf seinem langweiligen Beamtenposten etwas Schönes ausgedacht, eine Art von Spionageroman, bei dem er der Autor ist, und Sie und ich, wir sind handelnde Figuren, die nicht genau wissen, mit welchen Folgen und Wirkungen wir handeln. Und aus welchen Gründen, fügte Kornitzer hinzu. Und damit war das Thema Patente vom Tisch, das ihm Angst gemacht hatte, Angstschweiß, seit er im kubanischen Konsulat in Hamburg gewesen war. Es wurde einfach nicht mehr darüber gesprochen. Vielleicht hatte der Konsul sich in den Mittelpunkt einer Drehscheibe versetzt, rotiert, rotiert in seiner Phantasie, bis er schwindlig wurde, und seine potentiellen Mitspieler, die ruhig geblieben waren, waren gleichzeitig aus dem Spiel. AUS. Kornitzer konnte keinem Menschen sagen, wie dankbar er für diese Entwicklung war, und wenn er später dachte: Dieser Kelch, dieser Abgrund von Landesverrat, ist an Claire und mir vorübergegangen, wollte er ganz schnell etwas anderes denken, und sei es auch nur an den nächsten Schritt in einem minderen Routine-Prozeß, bei dem die Zeugen der Verteidigung benannt und pünktlich (!) einbestellt werden mußten.

Die Auferstehung des Fleisches. Das Fleisch revoltiert nicht, das Fleisch sehnt sich, dehnt sich. Das Fleisch nimmt in der sengenden Hitze eine andere Farbe an, das europäische Fleisch rötet sich, wie entzündet, es wird heiß, schmerzt, bildet Blasen und Pusteln, die sich öffnen wie Blüten, dann schält sich die verbrannte Haut ab, und die Schicht darunter rötet sich von neuem, und dann bräunt sie auch und schmerzt nicht mehr. Die Emigranten betrachten sinnend die Haut der Kubaner, nein, nicht die Haut, die vollkommen verschiedenen Häute, porenreiche Haut, samtweiche Haut, nachtschwarze Haut, kaffeebraune Haut, mokkafarbene Haut, Zimthaut, Nougathaut, rosafarbene Haut, helle Haut einer Dame, die durch einen großen Hut geschützt wird. Und es gab Männer mit blank rasierten Schädeln, so braun wie ein Tabakblatt. Gesichter, von der Sonne geschlagen, gedörrt. Und es gab Chinesen, die einen Gesichtsschnitt wie Afrikaner hatten, und es gab tiefschwarze Leute, die eine Feingliedrigkeit und einen Gesichtsschnitt wie Chinesen hatten. (Kuba hatte 1848/1849 Kantonchinesen und chinesische Kulis als Arbeitssklaven ins Land geholt. Man nahm an, daß es 150.000 bis 250.000 waren, eine unvorstellbar große Zahl.)

Dem Neuankömmling folgte gerne ein Pulk von jungen Streunern. Gab man ihnen ein paar Centavos, wurde einem als americano gedankt, was eine hohe Ehrung war, gab man ihnen nichts, war man ein polaco, was eine große Beleidigung war. Auf seinem täglichen Weg zur Hilfsorganisation Joint, der auch ratlosen neuen Emigranten mit Zuwendungen half, wenn jemand sein letztes Geld für sein Landungs-Depot ausgegeben hatte, sah Kornitzer täglich drei Brüder, der älteste war vielleicht zehn Jahre alt, der zweite vielleicht sieben, man sah, daß ihm die Milchzähne ausgefallen waren, wenn er lachte, und der kleinste, der meistens vom ältesten auf dem Rücken getragen wurde, war vielleicht zweieinhalb. Er sah die Brüder an mit einer freudigen Neugier. Sie bettelten nicht, es schien unter ihrer Würde zu sein. Nie sah er ihre Eltern, aber das schien kein Makel zu sein, die Brüder hatten zu tun, waren geschäftig, eine autonome, kleine und würdevolle Gemeinschaft. Sie sammelten Papier, und keine öffentliche Hand, kein Sozialarbeiter kümmerte sich um sie. (Doch, sie mußten abends in den Schoß einer Familie zurückkehren, eine Großmutter, ein Onkel, eine ältere Kusine mußte da sein, ein fest vertäutes Familienband, wenn es auch unsichtbar blieb.) Und sie waren höflich dem Mann gegenüber, dem sie täglich begegneten, ja, nun kannte man sich, also mußte sich auch Kornitzer eine respektvolle Begrüßung für das Bruderrudel ausdenken, die täglich wiederholbar war. Der älteste der Brüder war ziemlich dunkelhäutig, der mittlere heller und der kleinste hatte dichtes, lockiges, haselnußfarbenes Haar, und seine Haut war heller als Haselnüsse, fast walnußfarben, aber das tat der Eintracht der Kinder keinen Abbruch. Der größte trug den kleinen, der mittlere trug einen Sack, in dem sie Papier sammelten, auch winzige Fetzchen Bonbonpapier, nicht nur Zeitungen. Und Kornitzer staunte sie an mit Entdeckungsfreude (und gleichzeitig sehnte er sich nach seinen Kindern in England), er schrieb eine Postkarte, von der er nicht wußte, ob sie jemals ankommen würde, und ob die Kinder — natürlich nur Georg — sie lesen könnten.