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Aber dann weiß er bald, warum Claire nicht kommt. Das nächste Schiff, das nach der Reina del Pacífico landen soll, heißt St. Louis. Der Luxusdampfer der Hapag-Lloyd war am 15. Mai 1939 aus Hamburg ausgelaufen. Er hatte etwa 930 jüdische Passagiere an Bord, von denen die meisten bereits im Besitz von amerikanischen Quotennummern waren. In Kuba wollten sie lediglich das Eintreffen ihres Visums abwarten, drei Monate oder schlimmstenfalls, wenn sie eine der letzten Quotennummern hatten, drei Jahre. Aber niemand konnte oder durfte ein Vermögen, das über drei Jahre reichte, mitbringen, alles war mit Abgaben belegt, weggesteuert worden. Als das Schiff am 27. Mai in Havanna ankam, wurde dem Kapitän Schroeder keine Landeerlaubnis erteilt. Sollte er sich widersetzen, würde das Schiff von kubanischen Kriegsschiffen aus den Hoheitsgewässern hinausgeleitet werden, hieß es. Was das bedeutete, war unvorstellbar, ein Rausschmiß ins Nirgendwo. Ein Passagier durfte an Land: Es war der 92jährige Professor Mendelsohn aus Würzburg, der auf der Überfahrt gestorben war, und vielleicht war dies das einzige Glück der Reise. Professor Mendelsohn landete ordnungsgemäß, jedenfalls seine sterblichen Überreste, und niemand fragte nach seinen Papieren.

Im Mai 1939 hatte Kuba seine Einwanderungspolitik plötzlich geändert. Einreiseerlaubnisse und Visa, die vor dem 5. Mai 1939 ausgestellt worden waren, wurden rückwirkend für ungültig erklärt. Der Chef der kubanischen Einwanderungsbehörde, Manuel Benítez Gonzáles, war in Verdacht geraten, mit illegalen Einwanderungszertifikaten zu handeln. Er verkaufte solche Papiere für 150 Dollar und mehr, nach US-amerikanischen Schätzungen hatte er mit Gaunereien ein Vermögen von 500.000 bis 1 Million US-Dollar angehäuft. Das ging zu weit, auch wenn er ein Protegé des Generalstabschefs Fulgencio Batista war. Die Passagiere waren entsetzt und verstört und alarmierten das Joint Distribution Committee in New York. Eine Sozialfürsorgerin wurde entsandt zur Beruhigung der Flüchtlinge und der Anwalt Lawrence Berenson, er war Präsident der amerikanisch-kubanischen Handelskammer in New York, außerdem ein Freund von Batista. Aber Batista, ein populistischer Bonaparte, hatte auch Gegner, so war es nicht sicher, ob ein anderer Unterhändler, ein neutraler ohne kubanische Verbindungen, nicht mehr erreicht hätte. Lawrence Berenson war ermächtigt, der kubanischen Regierung 125.000 Dollar als Garantie für den Lebensunterhalt der Flüchtlinge zu bieten, gleichzeitig bürgte Berenson für die Einhaltung des Arbeitsverbots. Doch das genügte nicht, Mittelsmänner des Präsidenten verlangten mit gezogener Pistole 500.000 Dollar bei einem Überfall nach Wildwest-Manier. Batista hingegen ließ übermitteln, er wolle für „nur“ 450.000 Dollar die Weiterfahrt der St. Louis zur Ausschiffung auf der Insel Pinos, südlich von Kuba, vermitteln. Es stellte sich aber rasch heraus, daß Pinos ein Konzentrationslager war, ein schöner Deal war das, der dem Joint vorgeschlagen wurde. Zusätzlich zu den 450.000 Dollar ließ Batista noch weitere 150.000 Dollar verlangen, als kleine Wahlkampfspende für den kommenden Präsidentschaftswahlkampf, bei dem er kandidieren wollte. Der Mittelsmann schlug dann noch einmal 50.000 Dollar auf, als Gebühr in eigener Sache. Kuba war wie ein Pfund Butter, an jeder Hand blieb etwas kleben.

Kaum war der Vorschlag auf dem Tisch, widerrief ihn Batista, und das Schachern ging von neuem los. Die Flüchtlinge gerieten zwischen alle Parteien, Geiseln in einem Poker um Geld und Einfluß, einige wurden hysterisch, andere versanken in einer abgrundtiefen Verzweiflung, die keine Worte mehr kannte. Eine ganze Woche wurde verhandelt. Der Präsident forderte schließlich eine Million Dollar, zahlbar innerhalb von 48 Stunden, und sicherte als Gegenleistung die Unterbringung der Flüchtlinge im Lager Pinos zu. So konnte man nicht mehr verhandeln, man hätte schreiend, beschämt, angewidert, zornbebend den Raum, die Insel verlassen müssen, doch das ist nicht die Art diplomatischer Unterhändler; sie haben eine komplexe Erziehung genossen. Der Joint erhöhte sein Angebot auf 443.000 Dollar (oder 500 Dollar auf den Kopf jedes Flüchtlings). Ohne daß Berenson noch einmal mit den Mittelsmännern hätte sprechen können, zog der Präsident sein so großzügiges Angebot wegen Fristüberschreitung zurück. Unter der Hand erfuhr man, die kubanischen Politiker hätten zusätzlich zu der gewaltigen Summe auch noch mindestens 350.000 Dollar Bestechungsgeld erwartet. Es war ein schmutziges und ekelhaftes Geschäft mit der Ware Mensch.

In Nazi-Deutschland triumphierte man. Genau das sollte bewiesen werden: Kein Land der westlichen Hemisphäre wollte die Fracht der verängstigten Menschen aufnehmen, und auch deshalb waren sechs Gestapo-Leute als Aufpasser und Verhinderer auf dem Schiff. Die St. Louis nahm am 2. Juni Kurs auf Florida und Miami. Es gelang einigen Passagieren, ein Hilfs-Telegramm an Präsident Roosevelt zu schicken. Eine Antwort erhielten sie nicht. Die USA weigerten sich, nur einen einzigen Passagier an Land zu lassen. Hapag-Lloyd orderte das Schiff nach Hamburg zurück. Die Enttäuschung über die USA, die sich den Ausgesetzten gegenüber taub stellten, obwohl sie ordnungsgemäße Quotennummern hatten, war riesengroß.

In Kanada hatten Prominente eine Petition für die Flüchtlinge beim Premierminister William Lyon Mackenzie King eingereicht. Auch das war eine vergebliche Mühe. Er folgte strikt der Devise des Direktors des Einwanderungsbüros Frederick Charles Blair: None is to many. Kein Jude ist schon einer zu viel. Die 150 Dollar, die jeder Flüchtling auf dem Schiff für das dann annullierte Landungs-Permit bezahlt hatte, wurden von der kubanischen Einwanderungsbehörde nicht zurückgezahlt. Rund 136.000 Dollar hatten die Hintermänner und der Chef der Einwanderungsbehörde kassiert, ohne daß die mindeste Gegenleistung erbracht wurde. Und das Klima blieb gereizt. „Konditionen einigermaßen“, das hätte Richard Kornitzer jetzt nicht mehr nach Berlin geschrieben, eher „Konditionen miserabel“. Jetzt kam es Kornitzer klug vor, daß Claire ihre Reise noch nicht gebucht hatte, daß sie ausharrte in Berlin. Und obwohl sie jede Passage nehmen mußte, die sich ihr bot, wenn sich überhaupt eine bot, wollte er doch glauben, es sei ihre Voraussicht gewesen, daß sie nicht mit der St. Louis gereist war. Aber Claire hatte vielleicht gar nichts getan. Oder etwas sehr Intimes: Sie hatte sich der Trauer um die Trennung von ihrem Mann und ihren Kindern hingegeben. Das hatte Zeit beansprucht. Ob das etwas Kluges, Vorausschauendes war, konnte kein Mensch sagen, und ihr selbst war es gleichgültig. So war es einfach.

Die Passagiere der St. Louis, die vor Furcht, nach Deutschland ausgeliefert zu werden, wie versteinert waren, legten in vollkommener Schweigsamkeit und Entsetzen die Reise zurück. Auch andere Schiffe wurden zurückgeschickt, das Schwesternschiff der St. Louis, die Orinoco, das französische Schiff Flandre, die Orduña, wie die Reina del Pacífico ein Schiff der British Pacific Steamship Navigation Company. Die Emigranten-Zeitschrift „Aufbau“ berichtete über diese Schande. Man konnte es lesen, nur nicht in Deutschland. Unter den 900 Passagieren der St. Louis waren 113 Schlesier, las Kornitzer. Er dachte an das Begräbnis seiner Mutter, an die Verwandten aus Breslau, die er dort wiedergesehen hatte, er dachte an Breslau und fürchtete, die Verwandten hätten es ihm nachgemacht, als sie von seiner Emigration nach Kuba hörten. Er war ein Vorreiter und gleichzeitig einer, der in die Sackgasse geführt hatte. In allerletzter Minute bekamen die Passagiere der St. Louis aus humanitären Gründen Asyl in Belgien, den Niederlanden und Frankreich, einige auch in England, es war eine kurze Verschnaufpause, bevor die Deutschen die westlichen Nachbarländer überfielen. Die zweihundert Passagiere der Orinoco kamen nach Hamburg zurück, da verliert sich ihre Spur.