Im September 1939 sperrten die Kubaner 57 Emigranten in ein Lager, warum, war nicht klar. Willkür, vielleicht hätte man einfach einen Beamten schmieren müssen, aber welchen? Oder fürchtete sich auch Kuba vor der fünften Kolonne? Alle hielten tendenziell die Hand auf, jeder deal war abschüssig. Man konnte auf das falsche Pferd setzen, und das falsche Pferd gehörte einem gebügelten, geschniegelten Herrn im weißen Leinenanzug, der sich maßlos ärgerte, wenn die erwartete Summe an seinen Kollegen von der anderen Seite ging oder an seinen Vorgänger oder Nachfolger im Amt. Auch Kornitzer mußte sich klarmachen, daß sein Arbeitgeber, gegen den er kein böses Wort sagen konnte, an solchen Durchstechereien vermutlich beteiligt war. Und wenn Santiesteban Cino einen Termin versiebte oder einfach nicht auftauchte, wie sehr Kornitzer auch hinter ihm her telephonierte, ahnte er, daß nicht die vierte Tochter verheiratet werden mußte, sondern daß er Gespräche oder Verhandlungen führte, die einfach über die Hutschnur des Emigranten gingen. Kornitzer war ein Garant der Ordnung, die jederzeit zerbröckeln konnte, aber er sollte seine Nase bitte nicht in alles Mögliche, in alles Kubanische, in das Cubanísimo, in den inneren Bezirk, stecken.
Der Posten des Chefs der Einwandererbehörde wurde in kürzester Zeit dreimal neu besetzt, er war mit lukrativen Nebenverdiensten verbunden. So rasch ging es manchmal zu, daß der Fremde eine Lage ein halbes Jahr objektiv hätte prüfen müssen, und dann war die Situation vor seinen geblendeten Augen wieder undurchsichtig oder gänzlich verschieden von der Situation, von der er ausgegangen war, und das erneute Unwissen war beschämend, wenn nicht bestürzend. So war jede Entscheidung falsch und jede (vielleicht zufällig) richtig, und jeder Emigrant tappte in tausend Fallen und schämte sich seiner Unwissenheit. Mit anderen Worten: Es gab keine objektive Situation und dementsprechend auch keine objektive Prüfung. Kornitzer bat den Rechtsanwalt um Rat, bat ihn um politische Auskünfte und Einschätzungen, wenn er als freier Rechtskonsulent auftrat, aber Santiesteban Cino rang nur die Hände und sah ihn mit seinen samtigen, olivfarbenen Augen bekümmert an. Kornitzers Mittlerdienste zwischen der Hilfsorganisation Joint, bei der er als doctor angesehen war, ohne etwas Nennenswertes zu leisten, seine Spanischkenntnisse und seine Arbeit für den Rechtsanwalt trugen ein wenig zur Ordnung, zur Strukturierung der Fallen bei. Er konnte inzwischen im Namen der Rechtsanwaltskanzlei ganz leidlich Briefe schreiben an hochwohlgeborene Herren, Herren, die sich beschämend bedeckt hielten, im Kühlen blieben, während die Hitze brüllte und die Not. Er bat häufig Señora Martínez noch einmal darum, einen Blick auf diese Artefakte zu werfen. Mal korrigierte sie ein Wort oder einen Rechtschreibfehler, mal fügte sie einen Schnörkel hinzu, den Kornitzer nirgendwo bis jetzt gelesen hatte, also auch nicht beherrschen konnte. Die Rhetorik stand hoch im Kurs. Worte dienten nicht so sehr dazu, Gedanken auszudrücken, als vielmehr dazu, deren Abwesenheit zu verbrämen. Auf die Eleganz des Ausdrucks wurde mehr Wert gelegt als auf Klarheit. Schönschreiben. Schönreden. Schönfärben. Eine hohe Schule auf dem gespannten Seil der Hochsprache. So war die Hierarchie strategisch gesichert. Der neue Mitarbeiter brauchte Señora Martínez, damit er vor dem Rechtsanwalt gut da stand, er deckte ihre Nachlässigkeit, und so waren sie insgesamt kein schlechtes Team. Und der Rechtsanwalt unterschrieb die Briefe, die Kornitzer verfaßte, gutmütig oder sympathisierend, das wußte Kornitzer nicht immer so genau. Eines Tages lag ein Packen Rechnungen an Mandanten auf seinem Tisch sowie ein Gummifingerhut. Als Kornitzer nach dem Grund fragte, erfuhr er, er sei so vertrauenswürdig, daß er in Zukunft den Eingang der Zahlungen prüfen und in eine schwarze Kladde eintragen solle. Ob diese Honorare, die er verbuchte, überteuert waren, darüber machte sich Kornitzer, während er prüfte und Zahlenkolonnen schrieb, seine Gedanken, die aber zu nichts führten.
Wer später nach Kuba kam, war gewarnt. Er bekam von den früher gekommenen Flüchtlingen eine saftige Einführung in die Landeskunde: Der Präsident heißt jetzt Fulgencio Batista, und er ist ein Bandit. Vorsicht vor tiburones! Darunter verstand man überaus freundliche Leute, die sich ganz unbefangen den Emigranten näherten und sich ihre Nöte erzählen ließen. Es waren Haifische, Berufsbestecher. Sie lungerten vor Polizeistationen, vor dem Innenministerium und warteten auf solche, die ein Gesuch einbringen wollten. Im Handumdrehen erklärten sie, was die Erfüllung ihres Wunsches kosten würde, und dann gingen sie unverfroren, sich die Hände reibend, mit dem Bittsteller in das Zimmer des entsprechenden Beamten. Dort schob der tiburón dem scheinbar sehr beschäftigten Beamten eine Anzahl von Geldscheinen unter ein Papier, und die Sache war erledigt. Für ihn selbst fiel natürlich auch ein Batzen ab. Und der Flüchtling wußte nicht, ob er nur abgezockt worden war oder die Bestechung wirklich einen amtlichen Akt zur Folge hatte. Die Polocos, mit den Landessitten schon länger vertraut, benutzten für dieselbe Gattung Mensch den jiddischen Begriff Machers. Sie nahmen den Vorgang nicht so tragisch wie die Neuankömmlinge, die Machers waren Juden, Händler wie sie, nur handelten sie mit Informationen und Geld, also Schwamm drüber. Auch in Mexiko gab es diese übereifrigen, schmierigen Helfer, die Schlepper und Schleuser, dort nannte man sie coyotes.
Die Regierung, das ganze Land ist korrupt. (Doch man mußte zugeben, daß die Beamten lausig schlecht bezahlt wurden und deshalb gerne die Hand aufhielten.) Auch Straßenbahnschaffner zweigen einen Teil des Tarifs für sich ab. Nicht einmal einen Totenschein kann man ohne Bestechung bekommen. Der Tote liegt da, in der Hitze an einer dummen Blutvergiftung schnell gestorben, und nun feilschen die Freunde um einen Begräbnisplatz, um die Sicherheit, wann eine Trauerfeier an einem akzeptablen Ort stattfinden könnte. Jeder begriff, was geschehen war, dieser schmerzhaft schnelle Tod verstörte, der jeden treffen könnte, der nicht gut versorgt war und Vorerkrankungen hatte. Und so blieb eine Handvoll Freunde übrig, die den Spanienkämpfer, den Republikaner, der es geschafft hatte, nach Kuba zu kommen nach der Niederlage, betrauerten. Sie hätten dem Krankenhausarzt ein paar Scheine zustecken müssen, sie hätten den Begräbnisunternehmer schmieren müssen, damit er einen Ort für die Trauerfeier fände, sie hätten die Totengräber mit einer Invasion von kleinen Scheinen in Schach halten müssen, damit die Grube ausgehoben wäre, wenn der Sarg einträfe. Nein, das waren keine großartigen Nachrichten. Wem hätte man mitteilen können, daß der Emigrant ein Opfer der Ausbeutung war, ein nasses Hemd, das ausgewrungen wurde bis zum letzten Tropfen? Nein, das waren Nachrichten, bei denen man nur niederknien oder das heiße Pflaster auf der Straße mit der Zunge demütig ablecken konnte, und wer wollte das? Also mußte man sich anpassen oder an das Angepaßte andocken, und man wußte nie, wo man zu weit gegangen war, sich aus dem Fenster gelehnt hatte, und wo man noch Spielraum hatte, Spielraum, der ein Existenzraum war.
Kornitzer hatte sich vorgestellt, Bestechung sei eher wie der Handel eine Betätigung der Überbietung, der Überraschung, eine Sache, die mit ein bißchen Eleganz betrieben werden konnte, ein ziviles Unrecht, noch nicht allzu weit vom zivilen Recht. Was ähnlich war, war die Rhetorik des Rechts, nahezu ununterscheidbar von der Rhetorik des Unrechts. Und er wußte auch nicht, ob sein Arbeitgeber an diesen Machenschaften beteiligt war, und er wußte auch nicht, ob ein wenig von diesen herumgereichten Summen seine Arbeit zahlte, und — mit Verlaub — er wollte es auch nicht wissen.