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Auf dünnem Eis

Richard Kornitzer war gekommen mit einem Ausweis der Vereinten Nationen, aus welchem sich seine Eigenschaft als bona-fide Displaced Person und seine Zulassung zum Aufenthalt in der französischen Zone durch telegraphische Anweisung des Kontrollrates für Deutschland (Combined Travel Board) vom 7. August 1947 ergeben hatte. Er hatte außerdem eine Identitätskarte im ruppigen amerikanischen Spanisch der Hilfsorganisation: Refugiados Hebreos Habana. So war er angekommen im Nachkriegsdeutschland, er wußte, warum, er wollte ankommen, es zog ihn hin, das war eine eigenwillige und gleichzeitig passive Entscheidung, von welcher Seite man es betrachtete. (An der seine Frau den allergrößten Anteil hatte.) Ohne ihre energische Vorarbeit wäre er niemals angekommen oder erst Jahre später. Sie hatte ihn angefordert, sie wollte ihn wiederhaben, „ihren Mann“. Und in ihrer Vorentscheidung, in der seine Entscheidung neblig und vage (vielleicht auch beschämend) aufgehoben war, war ein Glück.

Aber Kornitzer kam als Mister Nobody (un don nadie) aus Nowhere (en ningún lugar). Die Sprache der Hilfsorganisation war Englisch, die UNRAA und später die IRO waren seine Paten, Patentanten, und sie ackerten ja auch, ihn und unzählige andere Displaced Persons an den Ort zu bringen, an dem sie erwünscht waren, an dem sie vielleicht Reste, Überreste ihrer verlassenen Familie finden würden oder eine tabula rasa, die weit entfernt war von den Kratern der Unmenschlichkeit. Die Sprache, die er viele Jahre zu benutzen gelernt hatte mit einigem Geschick, das Hochspanische mit einem Tasten nach dem weichen kubanischen Spanisch, hatte in Versunkenheit zu fallen. Er hatte sich lange Zeit gerne des Spanischen bedient, und er glaubte es einigermaßen ordentlich zu können, was ihm ehrerbietig bezeugt worden war. Die Sprache der Besatzungsmacht in diesem westlichsten Teil Deutschlands war Französisch, die Sprache des Landratsamtes, das für ihn zuständig war, war kernig, solide, Deutsch. Das Mündliche war Alemannisch, was Kornitzer auf Anhieb nicht gut verstand, und er wunderte sich auch, daß kaum einer seiner ersten Gesprächspartner Hochdeutsch sprach. Er ahnte, daß es ein trotzig fortgeführtes Sprechen war, eine Tonart, in die er sich einhören mußte. Also schrieb er lieber als daß er mündlich verhandelte. Und man antwortete auf die Briefe seiner Frau und auch auf seine, es waren Briefe verschiedener Kategorien. Auch das war nicht übel, sah auf dem weißen Papier aus wie die Spur eines Eisläufers auf der planen Fläche, eine feine Ritzung, man mußte genau schauen, wer sie hinterlassen hatte, mit welchem Kraftakt, die Geschicklichkeit, die Geschwindigkeit, all diese Energien waren meßbar, wägbar, anschaubar, wenn man es wollte. Es kam ihm der Gedanke, seine Erfahrung auf die gefrorenen Buchten des Bodensees zu übertragen, einen Ritt über den Bodensee, weil ihm alles, was er erlebt hatte, nun mit der Rückkehr so flüchtig erschien. Seine Emigration, die die Deutschen als Auswanderung bezeichneten: Betreten der Eisfläche auf eigene Gefahr. Manchmal lagen Leitern im Gelände, auf Bäume gestützt. Er war gewohnt, er hatte sich daran gewöhnen müssen, daß sein Leben gefährlich war. Zehn Jahre im Nirgendwo, in der Unsicherheit (niemand wollte den Namen wissen), wie lang, warum, woher, wohin, Schwamm drüber. Schwamm über das Mörderische, Schwamm über die Gewalttaten, das fiel ihm auf, aber er drückte ein Auge zu. Denn das Ankommen war auch eine Erleichterung.

Er war im März 1948 nach Deutschland zurückgekommen, er verträumte das Frühjahr, staunte den Sommer an. Er schrieb auf Claires guter Schreibmaschine am 12. August 1948 eine Eingabe an die Betreuungsstelle für politisch Verfolgte beim Landratsamt:

„Unter höflicher Bezugnahme auf die Rücksprache mit Herrn Oberinspektor Kemper und meine Eingabe vom 5. Juli d. J. an den Herrn Kreispräsidenten überreiche ich anliegend:

1. begl. Abschrift meiner Geburtsurkunde, aus welcher sich meine jüdische Abstammung ergibt

2. ein behelfsmäßiger Ausweis aus meiner Emigration in Havanna

Hierzu bemerke ich, daß ich außer der Qualifikation als Opfer des Naziregimes infolge rassischer Verfolgung von den vorgenannten Dienststellen der Vereinigten Nationen in Amerika zum Zwecke der Mitarbeit am demokratischen Wiederaufbau in Deutschland an leitender Stelle in die bevorzugte Rückführungsliste aufgenommen und hergesandt worden bin. Es ist mir ausdrücklich versichert worden, daß mir aus Gründen der Rasse, Religion, der früheren Ausbürgerung und dergl. keinerlei wie immer geartete Einwendungen oder Anstände entgegengehalten würden.“

Das hat Kornitzer gut formuliert, und nach der Erschütterung der Ankunft hat er auch wieder Selbstbewußtsein, Straffheit bekommen, auch daran war Claire nicht unschuldig. Und weiter schrieb er an die Betreuungsstelle:

„Sobald ich mich jedoch — nach einigen Wochen der Eingewöhnung in Europa nach der Reise — hier bei den in Frage stehenden Behörden gemeldet habe, bin ich auf ständigen Widerstand gegen meine sofortige Rehabilitierung in leitender Stellung gestoßen. Insbesondere ist mir die nationalsozialistische Maßnahme der Ausbürgerung entgegengehalten worden, dazu auch das Fehlen freier Positionen, obwohl sich in zahlreichen, auch leitenden Positionen frühere Nationalsozialisten befinden. Das hat zur Folge gehabt, daß ich nunmehr durch Monate hindurch wegen der früheren nationalsozialistischen Maßnahmen heute noch ohne jedes Arbeitseinkommen bin, ganz abgesehen von der Ausschaltung vom demokratischen Wiederaufbau. Obwohl mir von leitenden Stellen zugestanden wurde, daß ich inzwischen ohne den Nazismus die Stellung eines Landgerichtsdirektors erreicht hätte und daß dringender Bedarf an demokratischen Richtern in allen deutschen Ländern besteht, muß ich feiern.“

„Feiern“, das hieß: keinen Ort zu haben, die eigene werktägliche Arbeitskraft irgendwo einzubringen an vielen, vielen Tagen, an denen er lieber arbeiten wollte. Und diese Unbill der ungewollten, unfaßbaren Untätigkeit, der Arbeitslosigkeit, mußte er der Betreuungsstelle für politisch Verfolgte beim Landratsamt melden. Und er fügte seinem Brief eine Formel hinzu, auf die er einigermaßen stolz war und die einfach so stehenbleiben konnte: